Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Der Barde Hartmut Engler von der populären Gruppe „Pur“ hat ein neues Lied gemacht, eins über den zunehmenden Mangel an „Achtung und Respekt“ – so heißt der Song. Engler füllt mit seinem Programm riesige Stadien. Er könnte wieder erleben, daß seine Fans den Text mitsingen. Einverstanden mit ihm werden sie gemeinsam beklagen, daß Achtung und Respekt im Alltag zunehmend fehlen. Auch bei ihnen selber, aber es ist trotzdem richtig.
Ich lese, ein vorbestrafter Bengel wurde von einer jungen Frau, Tugçe, in ungutem Tun unterbrochen, dadurch kam es zu einem heftigen Wortwechsel. Nach einer „Ohrfeige“ von ihm stürzte sie und starb. Es gab einen Prozeß und ein Urteil. Wahrscheinlich ist es gerecht, aber so werden seine Eltern das nicht sehen. Auf dem Weg in den Gerichtssaal soll die Mutter das Foto von Tugçe angespuckt haben. Da muß man sich nicht länger fragen, warum es dem Sohn an Achtung und Respekt vor anderen Menschen fehlt. Läßt sich dieser unglaublich rohe Vorgang auch mit „anderer Kultur“ erklären? Andererseits: Sollte die Nachricht in der Zeitung, groß aufgemacht, genau diese Frage auslösen? – mitten in einem unfairen Alltag mit unfairen Arbeitsbedingungen und der gewaltigen Unfairneß, mit der erneut an der gefährlichsten Schraube, der Hochrüstung, gedreht wird? Was hat der Friedens-Nobelpreisträger Obama erwartet, wie die andere Seite reagieren wird, wenn er rings um empfindliche Grenzen, in deren Erde noch die Blutspuren vom letzten erduldeten Völkermord ruhen, ein Netz aus Bedrohung pflanzt? Ich fasse mir an den Kopf, wenn ich in unseren Zeitungen lese, wie die eine Seite ermahnt wird, während die andere mit ihren unehrlichen Begründungen zitiert wird. Doch es sind ja nicht unsere Zeitungen, sie sind nur in unserer Sprache verfaßt.
Aber vielleicht – das hofft man immer – ist die Menschenwelt nicht wirklich zynischer, nicht zutiefst gröber geworden, vielleicht erfahren wir einfach zu viel, und besonders jedes Unglück – schrecklich bebildert! – zu schnell. Aber doch immer, auch auf die Schnelle, plump und raffiniert zugleich ausgesucht. Damit wir denken, daß es uns, im Vergleich zum Gezeigten, noch immer ganz prima geht.
Die grenzenlose Information hat ihre Schattenseiten. Den Überblick behalten zu wollen, legt sich auf die Lebenslust und den dringend nötigen Schlaf, jedenfalls verringert sich jede Unbefangenheit. Waren wir es je? In unserer Geschichte kommen sorglose Zeiten eigentlich nicht vor. Mehr als die eigene Nähe zum nächsten Schrecken bedrückt aber die Erkennbarkeit von Plänen, deren Durchführung globale Auswirkungen haben wird: auf das Wetter, auf die Tierwelt, auf die Kirschen am Baum, auf alte und neue Krankheiten und auf die Lebensbedingungen der Erde. Kommt es auf die an? Auf wen überhaupt?
Dreiundvierzig Studenten wurden in Mexiko – von der Polizei? dem Bürgermeister? – an eine kriminelle Bande zur Ermordung übergeben. Das Verbrechen und die Verzweiflung der Eltern, das sind nicht verblassende Bilder. Ich vermisse die kleinen Freuden, die es in unserem Leben gab. Ja, in unserem Leben.
„Geh aus, mein Herz und suche Freud’…“ Worte von Paul Gerhard, dem unnachahmlichen Lehrer.
Das will ich ja, ich will ausgehen, unsere Wohnung verlassen, um Freude nach Hause zu holen. Früher konnte ich das mit einer seltenen Melone unter dem Arm. Da sammelte sich die Familie, das Messer wurde geschwungen, und es sah lustig aus, wie alle in die saftige Frucht bissen. Warum haben wir dabei gelacht?
Einmal gab es am Heiligabend im Geflügelladen, neben unserer Haustür in der Schönhauser Allee, kubanische Langusten. Wie bereitet man die zu? Jeder redete dazwischen, und wir haben die Langusten statt der traditionellen Mahlzeit vor der Bescherung mit Vergnügen gegessen. So einfach, so simpel? Scheinbar ja, aber es gehörte in der Seele und im Kopf die Zufriedenheit mit dem vergangenen Jahr dazu. Die vorläufige, mehr ist es ja nie.
Warum haben wir das in den letzten fünfundzwanzig Jahren nicht wiederholt?
Weil es Langusten, wenn auch nicht aus Kuba, bei Lidl, tiefgefroren, ständig gibt?
Es war Vorfreude, als wir uns für die Premiere des „Drachen“ schön machten. Die hat sich gelohnt, und wir gehörten zu denen, die vierzig Minuten lang geklatscht haben, als sich der Vorhang nach der Uraufführung des „Friedens“ gesenkt hat. Und jener Abend, als die wunderbaren Schauspieler im Deutschen Theater alte Volkslieder sangen. Freude, Freude, in die Buchhandlung zu gehen und zu hoffen, von der ersten Auflage eines ersehnten Buches ein Exemplar zu kriegen. Oder auch ein anderes, es war immer ein Stapel, der am Familientisch an die Erstleser ausgeteilt wurde.
Ich kenne das Argument: Du redest vom Charme des Mangels. Den will ich nicht preisen, ich denke nur manchmal: Ich bin erfahrener geworden, aber nicht viel klüger. Ich weiß zuwenig. Vor allem wichtige Zusammenhänge begreife ich oft nicht, oder zu spät. Ich wohne in bedrohter Platte und liebe sie, als wärs ein altes Bauernhaus in der Nähe von Elmau. Will dieses Haus also nur mit den Füßen voran verlassen, aber ich kenne den Mietspiegel nicht, weiß auch nicht, was mir als Patientin in welchem Fall zusteht, und wer jetzt alles, für sehr kurze Zeit, in dieses Haus einzieht, läßt mich auch nicht glauben, daß alles zum Besten steht.
Aber meine Seele ist noch immer bereit, Hoffnung zu schöpfen, die Nachrichten auf ihre gute Seite hin abzuklopfen, einen bis dahin fremden Menschen als Freund zu erkennen, im Lied das Leben zu rühmen. Ja, aber …! Meine Enkelin erzählt mir, daß in der Straßenbahn niemand für einen alten oder behinderten Menschen oder für die Mama mit Kind auf dem Arm aufsteht. Das aushäusige Leben ist sehr laut geworden, und Diskretion scheint zunehmend überflüssig. Verkehrsmittel ersetzen offenkundig für die Fahrzeit das Büro, denn ohne die geringste Scheu werden nicht nur Verabredungen oder Gesprächsinhalte ausgerufen, sondern auch Informationen über Absichten, die eigentlich niemanden etwas angehen.
Von meinem Balkon aus sehe ich nun, einer Filmkulisse ähnlich, ein Forum genanntes Schloß und frage mich, ob das grandios taktlos ist, oder ob es eben auch seine Zeit braucht, um ehrwürdig zu werden. Es ist die Erinnerung an gute Arbeit, die mich und sicher auch einige Kollegen um das andere Bauwerk an selber Stelle trauern läßt.
Meine Freude finde ich, wo ich Menschen treffe, die miteinander reden wollen.
Ich will mich nicht zerstreuen lassen, sondern für die nächste Arbeit neu sammeln.
Im Alltag müssen wir uns gegenseitig Freude machen, und da könnte ich jetzt lange und bewegt über Briefe und E-Mails berichten. Von daher kommt die Bestärkung, die Aufforderung, zu bleiben: „Du wirst noch gebraucht.“ Nein, es „kommt kein Wunder, kommt kein guter Hirt“.
Doch hoch soll er leben, überleben, denn wahrlich: Er wird gebraucht, Jorge Bergoglio, gewählter Vertreter einer Religion, die ihre schönen Kirchen erbaut und ihre Aufgabe den Menschen gegenüber oft genug gröblich verletzt hat. Dieser Papst mischt Reden und Handeln glaubwürdig und erstaunlich. Exkommuniziert die Mafia und fordert Einsicht. Er rüttelt in biblisch schöner Sprache an den Grenzstäben der Macht. Vielleicht sollten wir die Überzeugung abtun, daß uns diese reiche mächtige Kirche nichts mehr angeht. Wieder mal hingehen? Darauf weiß ich im Moment keine Antwort.
Ach ja! Die Mutter des jungen Mannes hat das Bild von Tugçe nicht bespuckt! Das hat die Zeitung mit den großen Buchstaben erfunden, und es ist rausgekommen.
Freude? Ich werde im Fahrstuhl, beim Einkaufen und in Veranstaltungen auf den „RotFuchs“ angesprochen. Mach das weiter, höre ich. Das werde ich mir überlegen.
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