Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Laß mich schlafen, Bruder Nacht! Das wird nix, der Schlaf will sich nicht einstellen. Die Bilder brennen in den Augen, bestimmen die Gedanken, wecken Erinnerung und Befürchtung. Aber ich werde den Teufel tun und versuchen, mich gleichzustellen mit denen, die uns gerade mit ihrer Verzweiflung, ihrem Mut und der Größe der Aufgabe, die sie uns aufbürden? abverlangen? zu gemeinsamem Tun anbieten? über- und herausfordern.
Was da vor uns liegt, zwingt zur Zusammenarbeit, zu einem Reichtum an Ideen, und mehr Anstrengung, als wir eben gerade übrig hatten. Ob es gedeiht, wissen wir noch nicht. Es wird eine neue Erfahrung, und vielleicht erzwingt sie ja ein Ende der unerträglichen Mittelmäßigkeit, die uns „unsere“ Politiker vorführen.
Wir werden uns fühlen wie die letzten Deppen, oder über unsere Beschränktheit siegen. Die gibt es, o ja! Aber erst das Ergreifende: Es ist schön und treibt Tränen in die Augen, zu sehn, wie das Kind nach dem Kuscheltier greift, wie Wasser und Obst gereicht werden, wie ganz normale Bürger ihrem Herzen folgen. Sie gehen mitten am Tag dorthin, wo sie gerade gebraucht werden. Vielleicht oder wohl wissend, daß die spontane Herzlichkeit nicht reichen wird.
Menschen haben Angst vor dem Fremden, oder dem, was sie als fremd empfinden. Eine gescheite Person massiert mich, hört sich meine Gedanken an, äußert dann die ihren. „Sie werden uns Krankheiten bringen.“ Welche?
Na, zum Beispiel Ebola. Ich sage: „Das klingt, als ob Sie auf dem Alex schon das ewige Eis sehen.“ Wir reden, und ich habe es geahnt: Sie weiß weder, in welchen Staaten die Epidemie aufgetreten ist, noch, ob zum Beispiel Syrien dazugehört.
Aber dennoch: Da liegt etwas in der Luft, da ist etwas, das hoffen läßt. Vielleicht nur ein Funke, oder ein richtiger Gedanke, den es zu stärken gilt. Meiner Enkelin habe ich erzählt, wie es war, als Kind, auf der Flucht vor Bombardements, in eine fremde Sprache und andere Sitten zu geraten. Aber wir haben damals, anders als der junge Mann aus Aleppo, dadurch den totalen Krieg nicht ertragen müssen.
Sind wir gut? – auch! Nach all dem, was auf dieser Erde der Mensch dem Menschen schon angetan hat, wissen wir, zu welchen Untaten Bürger ermächtigt werden können. Halten wir fest an der Überzeugung, daß gute Beispiele und überzeugende Vorbilder bei der Verbreitung besserer Sitten helfen. Es dauert nur lange und braucht mehr Wissen, denn zu wenig davon beflügelt auf der Lauer liegende Vorurteile.
Manchmal kann dir mitten am Tag alles Licht der Hoffnung verlöschen. Du stehst da, hältst dein Herz fest und weißt nicht, ob du aufgeben oder in den Kampf gehen sollst. Jemand meint, daß es ja wenigstens nicht hier war, sondern in Frankreich. Soll das ein Trost sein? Es wäre also bei uns nicht möglich? Die Täter waren ein Vater und eine Mutter, waren Menschen, die miteinander lebten und ein Kind zeugten, das nur drei Jahre alt werden durfte. Dann hat der Vater es in die Waschmaschine gesteckt und die in Betrieb genommen. Das Kind sollte zwanzig Minuten in der Maschine bleiben, aber es war nach zehn Minuten tot. Der Vater wurde für den Mord zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt, die Mutter als Mittäterin zu zwölf Jahren, was ich milde finde, für eine Person, die während der Untat des Mannes im Nebenzimmer mit dem größeren Kind ein lustiges Spiel erlebte. Sie hatte Angst vor dem Mann. Solche Aussage lag auf der Hand.
Dieses Land ist in vielen Teilen sehr vorläufig, oder dringend änderungsbedürftig, das trennt es von einer verläßlichen, einer zu liebenden Heimat. Aber die gesetzlichen Regeln sind eindeutig. Das Recht auf Unversehrtheit allein würde genügen, um zu wissen, daß niemand einen anderen verletzen, unterdrücken und unfrei machen darf. Mann und Frau sind bei uns vor dem Gesetz gleichberechtigt. Das ist eine täglich verletzte Wahrheit. Man möchte oft nicht glauben, was sich da in einer Familie abspielt, aber in den Frauenhäusern und vor unseren Gerichten kann man es erfahren. Die Emanzipation darf nicht auf dem Papier stehen bleiben.
Ich will nicht glauben, daß Mißstände nicht beseitigt werden können. Hilfe wird nur oft aus Angst nicht in Anspruch genommen. So habe ich Frauen reden hören, wenn es unerträglich geworden war, wenn sie endlich den Mund aufmachten, endlich ihr Kind oder sich selber in Schutz nahmen.
Wir leben aber nicht dort, wo Frauen noch gesteinigt werden, wo bis eben Vergewaltigung nicht als Verbrechen galt. Es geschieht weit weg, daß Mädchen mit untauglichem Werkzeug beschnitten werden, weil Lust für sie durch willkürliche Auslegung einer Religion verboten ist; es geschieht aber unserer gemeinsamen Erde, daß Frauen sich freiwillig Bimssteine in den Unterleib schieben, weil das nach altem Brauch für den Mann den Boden seiner Lust besser vorbereitet.
Wir leben nicht dort, von wo Millionen Menschen aufbrechen, junge Menschen, schöne Frauen und Männer, die aus zerbombten Städten und nach angstvoll gelebten Jahren, immer wieder hoffend und immer wieder enttäuscht, unsere Hilfe in Anspruch nehmen, um eine friedliche Nacht zu erleben, und einen Platz für Pläne, sinnvolle Arbeit und Leben in einer Familie zu finden. Das ist eine unverdiente Transfusion für das scheinbar großzügige aufnehmende Land.
Und ein entsetzlicher Verlust für die alte Heimat, die sich mit der Rechtlosigkeit des eigenen Volkes eingerichtet hat.
Die große Weltgemeinschaft hat ihren Anteil daran. Jeder, der sich militärisch beteiligt, ohne den Krieg beenden zu können.
Ich wünschte mir, ich könnte die abendlichen Bilder ruhig, Anteil nehmend sehen. Aber er ist kaum zu ertragen, der Anblick so vieler Menschen, eine Völkerwanderung über Tausende von Kilometern, immer angewiesen auf jegliche Hilfe, ausgesetzt jeder Willkür unterwegs.
Der Vorläufigkeit solidarischer Gesten sind wir uns bewußt. Sollen sie deshalb unterbleiben? Gewiß nicht. Es ändert nur nichts daran, daß auf die Ansässigen und die Ankommenden die Mühen des Alltags warten.
Und da bin ich bei einem Trost, der mein Herz erwärmt: Ob in meiner Apotheke, abends auf dem Bildschirm, bei Lidl oder in der Klinik: Da sind sie, die Kinder der zweiten oder dritten Generation, die Kinder und Enkel der „damals“ Angekommenen. Sie arbeiten ganz normal, sind meist sehr hübsch, und das Kopftuch tragen nur noch wenige. Sie reden so gut deutsch wie du und ich.
Wir lächeln uns an, grüßen uns, oder nörgeln auch mal, also ganz normal. Sind wir dumm, schwerfällig, vielleicht manchmal blöd? Wahrscheinlich, ja. So haben uns die Dichter, die Philosophen und Politiker genannt. Von letzteren nehme ich das am wenigstens hin und hoffe nur, daß sie nicht wieder einmal alles verpatzen.
Ich höre, daß die Lagerstätten vor Spenden beinahe platzen. Dennoch gehe ich durch die Wohnung und fange an, einzupacken. Viele Menschen müssen von vorn anfangen. Man kann sich eine Familie suchen und helfen, über das Alltägliche und über das sogenannte Große und Ganze zu reden. Einer sagt: „Es wird sich hier alles ändern.“ Bei uns ? Dagegen ist nichts zu sagen. Ohne Leidenschaft bringt man im Leben nicht einmal eine wohlschmeckende Kartoffelsuppe auf den Tisch. Die koche ich jetzt.
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