RotFuchs 216 – Januar 2016

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

In einem der schönen Tagebuch-Kalender von Klages habe ich diesmal einen Spruch von Sartre gefunden, der mich begleiten wird: „Vielleicht gab es schönere Zeiten, aber diese ist die unsere.“

Er hat recht. Es ist unsere Zeit, und nur diese eine ist unsere Chance, etwas zu verändern. Auf die nachfolgenden Zeiten haben wir als durchschnittliche Menschenkinder keinen Einfluß. Die Seele fragt, ob nicht vielleicht doch ein Lied, eine Angewohnheit, ein Spruch, ein Fischrezept wenigstens, bleiben könnte. Ja, vielleicht, aber vom Grund her? Es hat bei Größeren nicht gereicht, mach dir nichts vor!

Alle, die den Frieden lieben, müssen lernen, sich genauso effektiv zu organisieren wie diejenigen, welche den Krieg lieben. – Martin Luther King

Unsere Zeiten, was bringen sie uns gerade? Den äußersten Rand zwischen Gelassenheit und Beunruhigung. Unsere ehemaligen europäischen Bruderländer gleiten, rutschen und ackern sich nach rechts. Über der Wüste wird – sehr wahrscheinlich aus Rache – ein russisches Flugzeug abgeschossen, das gerade Leute aus dem Urlaub nach Hause transportieren wollte. Ich kann mich ja irren, aber mir scheint die Weltpresse darüber ziemlich unaufgeregt. Weil es sich „nur“ um Russen handelt? Weil Weltverbrechen an westlichen Ländern, wie ein abgeschossenes holländisches Flugzeug, gar ein Überfall auf das Bierzelt in München oder auf das World Trade Center, anders abgerechnet werden? „Dort sind zehnmal mehr Unschuldige ermordet worden.“ Kommt es darauf an?

Mein Leben lang habe ich über die Sehnsucht nach Frieden geschrieben, die uns, die den Unfrieden erfuhren, wohl eint. Sie füllt mir die Seele, sie führt mir den Stift, diese unbefriedigte Sehnsucht.

Indes stehlen die Angehörigen von Boko Haram, ziemlich unaufgehalten, aus den Dörfern kindliche Mädchen, um sie zu versklaven. Das heißt, sie zu einem Glauben zu zwingen, der ihnen verbietet, ihr eigenes Leben zu führen, ihren Körper zu schützen, ihren Kopf zu benutzen.

Ein lauterer Mann von „drüben“, der auch immer eine Meinung hatte und nichts bewirken konnte, fordert mich mit einer kostbar gestalteten Postwurfsendung auf, durch eine Patenschaft zu erreichen, daß ein Mädchen irgendwo auf der Welt, in einem nicht näher genannten Land, nicht mit elf Jahren verheiratet und also gerettet wird. Die rührende Aufforderung ist ganz diskret gestaltet, vor allem völlig unpolitisch. Damit auch kein Bösewicht böse werden kann, wenn sie ihm zufällig in die Hände fällt. Bei den bedauerten Verbrechen an weiblichen Kindern scheint es sich um Naturkatastrophen zu handeln.

Spätestens seit den Machtkämpfen um Griechenland ist unübersehbar, daß die so erhoffte, so dringend benötigte Gemeinschaft, nicht nur für das kriegsversehrte Europa, sondern für die ganze Menschenwelt, an Interessen und Eigennutz scheitert. Daß der Traum vom persönlichen Reichtum über die Sorge für alle unausrottbar triumphiert.

Ich will das nicht denken, aber anders ist die jetzige Lage nicht zu erklären.

Das Schreckliche, das an die Wand gemalte Entsetzen, ist möglich.

Das glauben wir nicht? Wir versuchen zu hoffen, daß unsere überbezahlten, vor Selbstbewußtsein strotzenden Politiker schon irgendwie recht haben, wenn sie uns erzählen, wie sie für uns vorsorgen.

Und dann schlagen zwei Hände voll Idioten auf eine der schönsten, gastfreundlichsten Städte der Welt ein. Sie zeigen uns, wie leicht das geht. Ich werde ein Leben lang nicht vergessen, was eine Mutter gesagt hat: „Ich wollte meinem Sohn eine Konzertkarte schenken und habe ihm den Tod geschenkt.“

Wen ruft man an solchem Abend an, wie findet man Erleichterung? Der unwiderstehliche, weil an Erfahrung geschulte Gedanke lautet: „Es geht, sie können es, und es gibt eigentlich kein Mittel dagegen.“ Das wissen wir doch seit dem 11. September, und warum begriffen wir es erst da?

Die Verbrechen haben stattgefunden, ob in Hiroshima, in den vietnamesischen Wäldern, in Afrika oder auf den europäischen Schlachtfeldern. Wir wissen, daß bittere Armut der sichere Gang zum Irrweg ist, daß die Ausbeutung der Erde das Leben auf ihr gefährdet. Wir wissen, daß die Macht der Wenigen nicht ohne Einhalt bleiben darf, und wie gefährdet der Boden ist, auf dem sie immer wieder zum Zuge kommen.

In Kiew, so wollte uns ein Teil der Presse glauben machen, wurde um Demokratie gestritten. Von wem? Von jenen Oligarchen, die den Zerfall der Sowjetunion zu eigenem märchenhaften Reichtum genutzt haben? Solchen Männern, die in den USA ausgebildet wurden, jene Unordnung herzustellen, in der sich eine neue Ordnung, die angestrebte Veränderung der Machtverhältnisse, einrichten ließ.

Ich hatte nicht vor, noch einmal nach Paris zu reisen. Aber ich sehe im Fernsehen eine Straße, durch die ich einmal, allein, gegangen bin. Der Boden ist jetzt unter Blumen unsichtbar geworden. Damals war es ein heiteres Hin und Her, und ich wollte nach Hause, in mein sommerliches, aufgeregtes, nicht gar so charmantes Berlin. Aber erst einmal mit vielen Zeitungen unterm Arm in mein Hotelzimmer, nach Paris. Und habe sie doch geatmet, diese Stadt, habe alles eingeatmet, auch dieses Fluidum der Leichtigkeit, dieses Offene. Ich dachte damals: Diese Menschen sind ganz bei sich selber, deswegen können sie so offen sein für andere.

Es ist nicht leicht, das zu teilen, wenn man ganz anders aufgewachsen ist und anders gelebt hat.

Die Niederlagen mehren sich. Sie übertreffen die kleinen Siege. Vor Jahren wollte meine Enkeltochter einmal Paris zu Silvester erleben, ohne das vorher zu organisieren. Wie in Berlin zum Brandenburger Tor, wollte sie dort in der Menge untertauchen, mit anderen das neue Jahr begrüßen. Was sie erlebte, war der Frust der arbeitslosen Vorstädter, der Jugendlichen, die abends die Innenstadt überfluteten, um auf ihre Arbeitslosigkeit und ihre ungelösten Bleiberechte aufmerksam zu machen. Wer sich dort auskannte, ging im Dunkeln nicht auf die Straße, sondern blieb zu Hause oder verschwand in Restaurants jeder Preisklasse. Meine Kinder waren dort unaufgeklärte Fremde, die fanden nirgendwo Platz, blieben zu Fuß und im Lärm der Proteste.

Nicht nur die Kriegsgefangenen in meiner Kindheit sind mir immer in wärmender Erinnerung geblieben, ich habe französische Freunde wie Fania Fenelon geliebt und bin in Berlin Menschen aus Paris begegnet, die ich nie vergessen habe. Mit Sophie und ihrem Mann Jean war ich im Konzentrationslager Sachsenhausen. Dort ist ihr Onkel erschossen worden.

Wir haben beide geweint. Durch sie weiß ich, wozu diese Teststrecke für Frontschuhe genutzt wurde, von Häftlingen „ausprobiert.“ Sie haben das meist nicht überlebt.

Als wir uns kennenlernten, auf einem Bahnsteig, mußten wir beide lachen. Wir waren am selben Tag geboren worden und sahen uns lächerlich ähnlich. Nun erinnere ich mich, und es tut weh, daß ich keine Adresse habe.

Paris, schmerzhaftestes Lehrgeld, aus dem nicht einmal eine Lehre herausschaut. Wer sich am schnellsten dazu bekannt hat, war es vielleicht nicht, sondern benutzt den Schrecken zur eigenen Bestärkung.

Ich wollte, es wäre eine Arbeit zugange, die sich Frieden nennt. Die immer noch geltende Verteilung von Macht und Reichtum bereitet der Erde und damit ihren Bewohnern gerade neue Verteilungskämpfe.

Schrecklich, das zu sagen, aber vielleicht ist der Schock nötig gewesen, um die trägen Politiker aufzurütteln, daß sie ihrer Verantwortung gerecht werden müßten. Was tagen sie ewig ohne Ergebnis? Und immer schaut heraus, daß sie etwas anderes anstreben als Frieden, endlich und einmal für lange Zeit Frieden.