Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Die Türen werden sich öffnen und jubelnde Kinder rennen aus dem Gebäude, in dem sie unentwegt etwas lernen sollen, wozu sie leider zu häufig gar keine Lust haben. Zahlen und Zeichen, Interpunktion, Deklination, Konjugation. Raus aus der Schule und dann – ja, was dann? Wie im Lied von Frank Schöbel. „Ferien, wir haben Ferien!“ Dann folgen die damals gewiß verlockenden Angebote. Bis heute bietet es eigentlich alles an, was ein Werktätiger zum Erholen braucht. Schulkinder sind arbeitende Menschen. Also, was rät Frank? Frische Luft, Zelte, ins Wasser gehen, Ball spielen, wandern, das alles ist alte Lustvorstellung, vierzig Jahre alt und entsprach den seinerzeitigen Möglichkeiten.
Wir haben leider kein schulpflichtiges Kind in der Familie, von dem wir erfahren könnten, worauf es sich für die Freizeit freut. Aber wir erfahren es mehr als ausreichend in der Öffentlichkeit, wo heute Angelegenheiten preisgegeben werden, die eigentlich niemanden etwas angehen.
Früher waren kurze Ferien nicht gerade dazu geeignet, große Unternehmungen zu planen. Zumal innerhalb einer Familie mit zwei arbeitenden Elternteilen bis heute vieles abgestimmt werden muß. Es war nicht immer leicht, dafür zu sorgen, daß unsere Kinder mit der freien Zeit etwas anfangen konnten. Es gab aber nur den Fernseher, vor dem sie nicht zu lange sitzen sollten. Schwimmhalle, Sportverein, Tanzgruppe, Ferienspiele und das Abklappern der Verwandtschaft standen umsonst oder kostengünstig zur Verfügung, nein, verglichen mit heutigen Preisen, unglaubwürdig bezahlbar. Die langen Schlangen vor dem Tierpark, das war schön, war Vorfreude. Und das Eis drinnen war familienfreundlich billig wie die begehrte Fahrt mit dem Pferdewagen und das Reiten.
Davon hat sich vieles grundlegend geändert. Nie zuvor habe ich so viele Artikel gelesen, in denen Bedenken gegenüber der fast üblichen Gestaltung der Freizeit für Kinder geäußert werden. Soweit ich erkennen kann, gibt es interessant zu behandelnde Probleme für die Pädagogik außerhalb und innerhalb der Familie, aber Lösungen eigentlich nicht. Die wird es geben müssen, denn wenn Kinder sich vor keiner Strafe so fürchten, wie vor dem Entzug ihres Handys, iPods oder dem Internet, dann ist etwas aus dem Ruder gelaufen.
Kinder sind nicht in der Lage, von sich aus Maß zu halten, auch bei schädlichen Einflüssen nicht. Worin haben wir solche früher gesehen? Den Schulen war auferlegt, dafür zu sorgen, daß die Schüler ihr Fernsehen auf Adlershof reduzieren. Ich habe die geforderte Unterschrift unter den Verzicht für die gesamte Familie nicht vollzogen. Ich wollte nicht, hielt den unanständigen Übergriff auch für nicht durchführbar und sah, wie andere Eltern sich mit ihrer Unterschrift beeilten, um den freitäglichen 21-Uhr-Krimi in der ARD nicht zu verpassen. Das haben die Kinder natürlich gewußt. Sie mußten schwindeln lernen. Wenn sie gefragt wurden, wie bei ihnen zu Hause die Fernsehuhr aussieht, dann war das ein pädagogisch unverzeihlicher Eingriff in das familiäre Ersterziehungsrecht.
Was aber machen die Kinder heutzutage, da ihnen alles zugänglich ist, was die Technik in den letzten zwanzig Jahren an überwältigenden Neuigkeiten hervorgebracht hat? Mit den Kontakten, Informationen und Angeboten stopfen sie sich – so könnte ich es mir denken – voll, scheinbar unermüdlich und immer Einflüssen ausgesetzt, die ihr junges Gemüt noch nicht werten kann.
Wie schwierig das ist: nicht unerträglich belehrend zu wirken, wo Einhalt nötig wäre, und ratlos zuzusehen, wie neben vielerlei Unterhaltung das Gift in das Gehirn des Kindes dringt.
Welches Gift? Nun, da gibt es viele Gefahren. Sie können Kontakte aufnehmen, die bis zur Bedrohung ihres Leibes und ihres Lebens gehen. Die Zeitungen berichten bestürzend viel davon. Die Technik macht wertfrei Angebote, die ein Erwachsener annimmt oder ausschlägt. Wenn das Kind nun frei hat, mal nicht das große oder kleine Einmaleins üben muß, die Schulbücher zugeschlagen im Rucksack läßt, sich mit den Aufgaben erst im allerletzten Moment und mit Hilfe der darüber ungehaltenen Angehörigen befaßt – wo ist da nötige Ausgeglichenheit zwischen Aufnehmen, Belehrung und Erwerben?
Sicher gibt es das noch: die Abendgeschichte, das Lied zur guten Nacht und vielleicht in der Familie sogar jemanden, der Märchen erzählt. Nach meiner Beobachtung beginnt aber schon im Kindergarten eine gewisse Entfremdung von jenen Angeboten, welche die Phantasie in Gang setzen, bereichern und zur eigenen Kreativität beitragen. Ein Film über Tiere ist etwas ganz anderes, als mit dem Tiger und dem Affen Aug’ in Auge eine Weile zu verbringen. Das Kino entfällt heute wahrscheinlich meist aus dem Programm. Zu teuer, zu weiter Weg und ungünstige Zeiten der Vorstellung. Vor allem gar nicht nötig. Man braucht ja zu Hause nur auf den Knopf zu drücken. Ich weiß, daß in vielen Familien der Fernseher im Hintergrund sogar bei den Mahlzeiten läuft.
Manchmal, und aus ehrlichem Interesse, sehe ich mir die Sendung über die „strengsten Eltern der Welt“ an. Interessant, wie Menschen in ganz anderen Kulturkreisen, unter den Bedingungen der Natur, ihre Fähigkeiten zum Überleben ausbilden. Und das können sie. Bewundernswert, daß unter manchmal sehr rauhen Umständen das Familienleben seine ganz eigene Kultur findet. Da ist immer Liebe zu spüren, so wie nötige Regeln, schwere Arbeit und meist keine Aussicht, daß die Nachkommen anders leben werden. Die Kultur dieser Völker ist abgeleitet von ihrer Lebensart, sie haben auch ihr Lied und den Klang der Instrumente. Das Wesentliche ist, daß sie alles selber herbeischaffen, herbeisingen, herbeitanzen und einander erzählen müssen.
Dahinein kommen nun zwei unerträglich verwöhnte Gören, die von ihren Eltern aus den Händen gelassen wurden, weil mit ihnen nicht mehr fertig zu werden war. Dreizehn- oder fünfzehnjährig, sind sie abhängig von Alkohol, Nikotin, der Frisur, den Tattoos, den Klamotten, dem Freundeskreis, der so denkt wie sie, so säuft wie sie, so qualmt wie sie, so blöde daherredet. Statt es selber wieder hinzukriegen, vielleicht mit Hilfe, die es ja gibt, werden die Kinder in eine Kultur geschickt, die ihnen für die Dauer von ein paar Wochen unmöglich macht, was sie für unverzichtbar halten. Was soll das bringen? Sie geben nach, sie kriegen Angst, sie arbeiten mit, essen mit, leben mit. Zum Schluß umarmen sich die einander Fremden – und ich denke, auf der Heimreise werden die Kids sich mit dem versorgen, was sie dringender brauchen als Lebensmittel: dem Gift. Sie stürzen dem nächsten Angehörigen weinend in die Arme, beide Teile sind zu Versöhnung und märchenhafter Einigkeit bereit. Folgenlos, voraussehbar folgenlos. Denn im gewohnten und eigentlich geliebten Freundeskreis werden sie alles erzählen und dabei gemütlich einen saufen und eine qualmen.
So denke ich es mir. Aber da ich im Moment kein gefährdetes Kind im Haus habe, bin ich ja vielleicht gänzlich auf der falschen Fährte. Nur: Man sage mir nicht, daß es Ausnahmen gibt, daß geläuterte Menschenkinder ihre Clique schneiden, um hier zu leben wie dort. Wäre ja auch nicht zwingend und ergibt sich nicht. Ist nur eine Erinnerung. Sie bringt den Kids weniger als dem Fernsehen.
Mir gefällt meine Ratlosigkeit nicht. Aber wie ich sehe, findet die Gesellschaft derzeit für die Mehrzahl bedenklicher Entwicklungen auch wenig Rat.
Für ein Urenkelchen müßte ich mich mit dem Zeug befassen, damit ich mitreden kann. Auf gescheite Weise Grenzen ziehn, und die Erfinder mit ins Boot holen. Andere sind bestimmt schon weiter. Darüber wüßte ich gern mehr.
Nachricht 754 von 2043
- « Anfang
- Zurück
- ...
- Zwei beeindruckende Ehrungen
Heinrich Vogelers - A. S. Makarenko – Wegbereiter für
das sozialistisch-humanistische Erziehungsideal - Ein Mädchen aus Randberlin (Teil 2)
- Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
- Leserbriefe
- Flüchtlingssteuer für Steuerflüchtlinge
- Heinz Keßler gab keinen Meter Boden ab
- ...
- Vorwärts
- Ende »