Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Gib mir einen Mai, rot umrandet an seinem achten Tag. Verkünde mir, daß alle Mächtigen respektvoll rangehen an die unausdenkbar wichtige und wieder einmal so unmöglich scheinende Aufgabe, diese Erde mit allem Leben darauf zu befrieden. Daß sie die Interessen der einen wie der anderen auf ihre Ursache und ihre Fähigkeit zur Veränderung hin untersuchen, friedlich die teuflischen Stimmen zum Verstummen bringen. Und die uralte Sehnsucht nach Leben, einfach nur leben, soll endlich zu ihrem Recht kommen. In einem besonders dummen Schlager aus der westlichen Sphäre heißt es: „Kinder der Liebe sind wir alle auf der Welt, ob wir nun arm sind oder reich, am Ende sind wir alle gleich.“
An welchem Ende? Wenn wir übersättigt und vollgefressen der eigenen Begierden und der Erfüllungen müde sind und das Leben aufgeben, weil es nichts mehr darin gibt, was wir uns noch wünschen könnten? Gefeiert im Tod für unser Verdienst, Gold und Geld gehäuft zu haben und damit allem anderen Lebendigen überlegen zu sein? Die wir schädigen konnten in der Sucht nach mehr. Oder mit großer Geste des Schenkens vielleicht einen Schaden weniger anrichten, den wir wahrlich auch noch gekonnt hätten. Oder wenn wir gelebt haben, so gut es eben ging, den Leib nicht schonend, mit viel zu wenig Hilfe, die auf Erden immerhin schon möglich ist, die uns geholfen hätte bei der schweren Arbeit. Wenn sie rechtzeitig gekommen wären, die Menschen im weißen Kittel. Oder einmal, trotz drohendem kargem Gewinn, vorerst, in ihren Laboratorien – wenn sie aufgehört hätten zu suchen nach der gewinnbringenden Marge. Aus „vernünftigen“ Gründen haben sie gelegentlich die Leiden Abhängiger verlängert, damit ihnen erhalten bleibt eine böse Kraft, die sie gebrauchen konnten.
Gebt mir einen Mai, protzend vor Grün und Liedern, wo die Liebenden furchtlos darauf warten können, daß sie ihre Dinge im Leben allein bewältigen werden, weil ihnen kein Riesenschicksal, kein höllischer Schlund droht, der ihre junge Liebe unsterblich macht, weil ihr keine Chance zu einem langen Leben gegeben war. Einen Mai will ich, in dem die Kinder der Armen nicht nur mit Hilfe von Spenden überleben, sondern einen Anspruch haben auf ihr kleines oder geniales Talent, etwas aus sich zu machen, sogar über die Eltern hinaus, falls die zu träge waren, einen größeren Entwurf anzugehen, und so der Menschheit am Ende etwas zu hinterlassen, was die Blumen auf dem Grab verdient macht.
Es ist mir egal, wie das Wetter wäre an einem achten Mai, an dem die Glocken aus allen Himmelsrichtungen Frieden verkünden würden. Das Betreten der umstrittenen Felder solle für Schlachten verboten werden. Wer in Uniform erscheint, soll an jeder Hand einen führen, der zu Teilen anders denkt. Und niederlassen sollen sie sich auf dem noch zu kalten Boden, Speck und Brot mögen sie auspacken, die Nahrung einander reichen und bedächtig reden über das Mögliche und das Unmögliche. Das ungetan bleibt, wenn diese Menschheit es noch länger unternimmt, sich aufzuteilen in die allzu Mächtigen und die allzu Ohnmächtigen.
Verflucht sei der uralte Brauch, sich in schwarz und gelb, rot und weiß einzuteilen, wider alle Erkenntnis. Längst ist bewiesen, daß die einen nicht geringer sind als die anderen, wenn man sie nur aufwachsen und werden ließe, als ein Mensch, der nicht von Furien gejagt die eigene Kindheit überleben muß, so gut und falls es geht. Ich wünsche mir einen Mai, in dem die Frauen gerühmt werden dafür, daß sie ihren Zorn laut genug und nachdrücklich geäußert haben. Zu hören war, daß sie sich weigern, immer wieder zu gebären, für viel später als Gedenkstätte geweihte Erde, um die ihre Trauer kreist, wie bei Käthe Kollwitz. Und Männer wünsche ich mir, die abwinken, wenn jemand von ihnen verlangt, sie sollen sich einen Gürtel umbinden und die Menge suchen, damit ihr Tod auch die anderen zerfetzt.
Ja, ich träume, ich träume. Mein Recht auf diesen Traum leite ich ab aus der Kindheit im Krieg, aus dem Hunger im Nachkrieg, der Behinderung für den Verstand, den Steinen im Weg durch all jene, die gelernt haben, am Krieg zu verdienen und nicht einsehen, warum sie das lassen sollten.
Es ist mir egal, ob ihr die Sehnsucht nach Frieden, ihr Unbelehrbaren, nicht auf Lenin oder Marcos Ana, auf Gandhi, Engels oder Rosa, auf Martin Luther King oder Nelson Mandela zurückgeführt sehen wollt. Ehrwürdig all jene, die ihr Teilchen dazu beigetragen haben, daß wir angesichts des Zustandes der Erde vom Frieden nicht mehr als von einem unerfüllbaren Traum sprechen können, dürfen. Er ist in Mündern schon sagbar geworden, die gewaltsam verschlossen wurden, weil „Sehnsucht nach Frieden“ allzu angreifbar klingt – oder gar kitschig.
Es kann mir nicht reichen, daß der Flieder duften wird, jedenfalls bei uns. Daß wir an unserem Tisch am Morgen ein Frühstück genießen können. Daß die meisten von uns darüber nachdenken müssen, wie sie mit etwas weniger Nahrung auskommen können, damit der Gürtel noch paßt. Entsetzen stumpft ab, die Bilder des Tages führen uns Unerträgliches vor: wie diese große weite Welt mit den Wehrlosen umgeht, ob Kind, Mann oder Frau. Auch ohne Schlachtfeld. Wenngleich sich die Vorgänge zu einer Art Vergleichbarkeit hochschwingen.
Ich habe mich immer bemüht, ein friedlicher Mensch zu sein. Aber ich höre Sätze, die mir das wieder einmal sehr schwer machen. Sie werden ausgesprochen von Menschen, die ihren fetten Arsch in gesicherten Sesseln unterbringen.
Nein, kein Haß. Aber Sehnsucht nach Einsicht.
Der Krieg kennt viele Arten von Sterben.
Ein paar Wochen lang hatten wir einen Mann in der Familie, der kam, um unseren Kranken zu pflegen. Er tat das mit geschickten Händen und mit genau hinschauenden Augen. Leider müssen wir auf ihn verzichten. Er stammt aus einem als sicher gekennzeichneten Land. Die Kinder müssen ihre neuen Freunde in der Schule verlassen, die Frau kann aufhören, sich an den Gedanken zu gewöhnen, daß sie wie ihr Mann ein Recht darauf hat, aus dem Haus zu gehen und eine Arbeit zu leisten, von der man zufrieden in die Familie zurückkehrt. Ein Abschied, den ich mit Kopfschütteln begleitet habe.
Gebt mir einen Mai, der mir neben der Hoffnung auf den Sommer eine Hoffnung auf Frieden, endlich Frieden, schenkt.
Was soll ich schreiben? Wieder über die Liebe? Ich weiß ja nicht, ob ich mit meinen Sängern eine einzige Seele aus ihrer einzigartigen Not befreien konnte. Noch viel weniger weiß ich, ob meine Lieder für den Frieden – ach ja, Pflichtlektüre in der 10. Klasse – aber das war ja in der dummen, unterentwickelten DDR – an den kriegerischen Verhältnissen auch nur einen Gedanken entwaffnen konnten. Teil du mit mir wenigstens die Sehnsucht. Auf einen Mai, der …
Was sollen wir hinzufügen? Vielleicht einen Gedanken an abgerüstete, entwaffnete Soldaten, ausgemergelt, hinkend – auf dem Weg nach Hause, das es vielleicht noch gibt, aber das wissen sie nicht. Sind sie mit Napoleon losgezogen? Standen sie unter dem Befehl von Maria Theresia? Waren sie vielleicht Ritter, die Auschwitz vorgriffen, indem sie die Taufwilligen nach links, die ablehnenden Heiden nach rechts kommandierten? Rein in die Kirche oder Tod durch das Schwert?
Bertha von Suttner starb im Jahr 1914. Von ihr stammt das Wort: „Nicht den Frieden zu erhalten, sondern ihn erst zu schaffen, gilt es, denn wir haben keinen. Wir leben im Rüstungskrieg, in einem auf die Dauer unhaltbaren Waffenstillstand.“
Und: „Merkwürdig, wie blind die Menschen sind. Die Folterkammern des finsteren Mittelalters flößen ihnen Abscheu ein, auf ihre Arsenale aber sind sie stolz.“
Am 13. Mai 2016 wird unsere Autorin, die Dichterin in Lyrik und Prosa
Gisela Steineckert
85 Jahre alt. Die zweifache Nationalpreisträgerin der DDR, die zu den Initiatoren des Oktoberklubs gehörte und als Präsidentin das Komitee für Unterhaltungskunst der DDR leitete, hat eine Vielzahl bewegender Bücher und unvergänglicher Texte wie „Der einfache Frieden“ und „Als ich fortging“ geschrieben, die zu Welterfolgen wurden. Ihre ständige Kolumne „Hand aufs Herz“ zählt zu den profilgebenden Beiträgen unseres Feuilletons.
Sei von Herzen beglückwünscht, liebe Gisela!
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