RotFuchs 221 – Juni 2016

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Nun mußte er uns verlassen. Mitten in der Arbeit, die er selber leisten wollte, zu der er angeregt hat: Uns, seine Mitstreiter, seine Genossen und Kollegen, die mit ihm am „RotFuchs“ arbeiten durften, den er sich ausgedacht hatte und dem seine Lust und Liebe galt.

Meine Zeit der Zusammenarbeit mit ihm kam spät, aber noch früh genug, um zu bewundern, was der jung gebliebene Kopf dem mahnenden Körper abverlangte.

Auch, wieviel neues Wissen er dem Schatz seiner Erfahrungen und Kenntnisse täglich zuführte, weil er für nötig hielt, sein Denken abzusichern. Er las täglich Zeitungen in mehreren Sprachen, weil er es konnte. Weil er es konnte und anderes fürchten gelernt hatte, zwang er sich, belehrbar zu bleiben, obwohl die Ereignisse in der Welt auch ihn manchmal zu eherner Ansicht zwingen wollten.

Rote Nelken sind angemessen. Eine weiße Rose soll meinen, daß die Gedanken, die auch seine waren, nicht zu Ende gelebt sind, die Arbeit nicht getan ist. Da wir sie aufgreifen und versuchen, sie weiterzuführen, werden wir ihm gerecht.

Klaus Steiniger ist der Anfeindung seines Körpers erlegen, während der Geist sich noch sowohl in der künftigen wie der anliegenden Arbeit befand – ohne die er nicht zu denken war. Immer im Vorgriff, immer im Nach-Denken, denn das schon Gesehene war selten das Bild, das sich ihm zur Zufriedenheit ergeben hat.

Nicht die Persönlichkeit hat aufgegeben, sondern das Vergängliche an ihr, dem auch die Ärzte nicht länger beikommen konnten. Er wußte das und wurde immer drängender und eiliger. Jede Zuarbeit hätte er am liebsten immer schon vorgestern gehabt und geprüft. Auf seine Genauigkeit konnte man sich verlassen.

Klaus Steiniger und Angela Davis

Er war ein guter Zuhörer, wenn sich dafür einen Augenblick lang Zeit fand. Nun hätte ich ihm nicht gerade ein neues Gedicht angeboten – davon verstand er weniger –, aber einen ungenauen Gedanken, dem ich allein nicht aufhelfen konnte, den brachte ich schon zur Sprache und ließ mir von ihm helfen, ihn einzuordnen. Aber meist stand neben der Weltpolitik und ihren jüngsten Entäußerungen doch das Blatt zur Debatte. Was nicht zu ihm hinführte, stahl ihm nötige schmale Zeit, und er ließ sich das immer anmerken.

Für das Leben der Menschen in dieser zunehmend gefährlichen Welt hatte er seinen Traum: Es ist zu schaffen, sie werden zu bleibender Vernunft kommen, sie können doch nicht … Gerade sie, die von den Nazis Verfolgten, und er wie sein Vater gehörten ja dazu, konnten von dieser Vision nicht lassen: Eine friedliche Erde und auf ihr eine vorstellbare Ewigkeit schaffen, die Frieden heißt: den Menschen allüberall, dem Meer und den Himmeln, wie für das Buch, das aufzeichnen und verkünden soll, wie es gewesen ist, und wie es zu schaffen war.

Es ergäbe ein zu Herzen gehendes Sachbuch über die Politik der Jahrtausende. Mit allen Fakten sowie gerechter Verteilung der Zensuren an alle, die dabei waren, ruhmreich oder schuldhaft. Und eins darüber hinaus über den einzelnen, der sich aus der Feigheit erhob, widerstand und überlebte und nun ins große Buch eingetragen wird, ohne Fesseln, ohne Festgewand.

Schwärmen war nicht seine Sache, aber wenn er von den Kindern, den Enkeln und Urenkeln, von seiner Familie sprach, den Reisen mit Bruni oder der Vorfreude auf das zu erwartende jüngste Enkelkind, dann war da Liebe und Stolz und immer auch das schlechte Gewissen über alles Versäumte. Wenn er früher den Koffer aufmachte, Geschenke verteilte, ihn dann schloß und für oft lange Zeit wieder unterwegs war. Er hat fast die ganze Welt gesehen und über sie berichtet. Fotos und Bücher weisen das aus. Er war stolz auf Freundschaften mit berühmten Leuten, politischen Gestalten, die jeder kennt, oft nicht so gut wie er.

Aber die tiefste Lebenswurzel war die Bewahrung von Liebe und Stolz auf seinen Vater. Peter Alfons Steiniger, man lese nach, wer er gewesen ist und warum ihm der höchste Orden der DDR verliehen wurde. Der allerhöchste ist aber die Liebe des Sohnes, der ihm bis zum letzten Atemzug zu danken wußte, daß Vater und Sohn flüchten konnten, sich verstecken und am Leben bleiben, was die Nazis nicht vorgesehen hatten. Der Vater, die Lichtgestalt.

Der Sohn hätte seinen Kindern gern noch jene Orte, jene Verstecke gezeigt, in denen ihnen Menschen geholfen haben, die Nazis zu überleben.

Aber nur Antifaschist zu sein, das hätte Steiniger nicht ausgereicht. Da war mehr zu leisten, als Vergangenes zu bewältigen. Sein Traum war die so schwierig zu schaffende Nähe aller im weitesten Sinne fortschrittlichen Menschen, über mögliche Grenzen unterschiedlicher Sicht auf Details hinaus. Ob die friedfertigen Menschen in die Kirche gingen, ob sie die Klassiker im Detail anders auslegten, Nahziele erstrebten, die ihm nicht so wichtig schienen, das war zu übersehen. Wann immer wir länger als für die anliegende Arbeit nötig miteinander sprachen, war dies sein dringendster Wunsch: die Arme weiter zu öffnen und in der Bemühung um den Frieden immer mehr Menschen für dieses Ziel zu sammeln. Keinen Druck auszuüben, bedingungslos zu sein für Gutwillige. Er bezog Kundige, Verbundene, Gleichgesinnte wie Suchende ins Werk hinein, in die Überfülle der Arbeit.

Aber nicht, ohne das Eigene wie das Zugearbeitete immer wieder streng zu prüfen: auf falsch Verstandenes, auf Idealismen, falsche Zitate, falsche Zuordnungen.

Dabei ging es nie darum, seine vorige, seine persönliche, auch immer wieder überprüfte Meinung zu verbreiten. Dafür rühme ich ihn: Wenn es nicht nachweisbar falsch war, konnte es anders sein, als er dachte. Er hätte das vielleicht so nicht gesagt, aber du durftest das so sagen. Manchmal habe ich genau deswegen etwas verändert, weil er es mir so großzügig zugestand und ich doch wußte, daß es noch nicht zu Ende gedacht war.

Der letzte ausgetauschte Gedanke ist nicht zu Ende gedacht, das letzte Gespräch abgebrochen, nicht beendet. Was können wir tun? Wir rücken näher zusammen und übernehmen trotz Überfüllung des eigenen Alltags jeder einen Teil. Ohne daß wir uns da täuschen: der kritische, aufmunternde und einwendende Blick von Klaus liegt noch auf uns.

Ich hätte ihm gern noch mein neues Buch gezeigt, ziemlich sicher, daß er darin blättern und kaum Zeit finden würde, es zu lesen.

Ich wollte versuchen, sein Porträt zu schreiben und darin unterzubringen, daß er der jüngste Staatsanwalt der DDR war, und wie gut es ihm stand, wofür er rausgeschmissen wurde. Ich wollte gern noch einmal von ihm hören, daß ich auf keinen Fall aufhören soll, für den „RotFuchs“ zu schreiben – und habe es gehört.

„Er wollte gern vorher so leben, daß er seinem Tod viel Arbeit macht.“

Das hat er geschafft.

„Hat ein Mensch gelebt, bleibt uns seine Spur / denen, die ihn liebten, und nicht denen nur ….“

Das Beste, was seine Familie für ihn tun konnte: Sie haben ihn neben den Vater gelegt. Dort ist er gut aufgehoben.

Erinnern, und sei es nur, daran zu denken, wie mutig es war, nach Hiroshima zu reisen. Oder, was er empfunden hat, als er in Vietnam an einer Stelle stand, von der die Amerikaner behaupteten, sie seien eben dort von einem Kriegsschiff angegriffen worden.

Dieses Begreifen, daß es eine Lüge sein muß, daß sich dort kein Kriegsschiff aufgehalten haben kann, höchstens ein Fischerboot.

* * *

Ich kannte Klaus Steiniger nicht lange genug, um ihn zu kennen. Aber eine Art Vorbild war er mir schon. Das ist es, was ich ihm schuldig bin, und was er mir bleibt.