Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Einmal war ich als Jurorin bei Alice Schwarzer in Köln. Wir sollten ernste und gerechte Arbeit verrichten. Das war nicht leicht, denn zwei Tage später sollte der Karneval beginnen. Die tüchtigen Frauen verwandelten sich vor meinen Augen in gickernde, alberne Weiber. Zum Glück durfte ich am selben Tag noch abreisen in mein gerade besonders mürrisches Berlin.
Mutter Natur hat mir dies und jenes mit auf den Weg gegeben, aber eins hat sie mir versagt: die Lust an der Ausgelassenheit in der Menge, zum Beispiel durch den Fußball. Neben einem lieben Mann habe ich durchaus öfter auf den damals noch kleinen Bildschirm geguckt und versucht, zu jubeln oder zu fluchen. Und ich kann mich nicht erinnern, daß je einer neben mir gesessen hätte, den es kalt ließ, ob das Runde ins Eckige gelangte. Wenn man nur blöd und stumm hinguckt, ist es kaum zu glauben, welch ein Ausmaß an Gefühlen sich da auch bei sonst kargen Männern offenbart! Ich aber bin ein Stiefkind dieses Glücks und trolle mich. Es hat Jahrzehnte gedauert, bis ich die Abseitsregel verstanden habe, und meine häufigen und immer wiederkehrenden Nachfragen haben manche Stimmung getrübt, die eben übermütig werden wollte. Ich habe darüber sogar einen meiner Ehemonologe geschrieben, aber selbst da mußte ich mich noch einmal erkundigen, was ich den kundigen Ehemann antworten lasse.
Doch Wunder gibt es immer wieder. Ich stelle vor ein paar Tagen den Fernseher an, in Erwartung von neuen, weltweiten Untaten, und das hat nichts mit depressivem Charakter zu tun. Dieser Erdball vibriert, und wenn man könnte, möchte man beide Hände ausstrecken zu einer Kette rund um die Erde. Laßt sie uns, möchte man bitten oder hinausschreien, hört auf!
Aber der Fernseher belebt seine Mattscheibe, und ich sehe, daß Deutschland auf dem Spielfeld vertreten sein muß, denn „Schweini“ wird gerade eingewechselt. Ein Blick auf die Uhr zeigt mir, daß er genau noch zwei Minuten Spielzeit hat. Der hochgewachsene Mann lacht, mit ausgebreiteten Armen läuft er sehr schnell auf der Außenlinie und dann quer über das Spielfeld. So gelöst, so heiter. Er rennt, als ob er fliegt, ganz mühelos und ohne irgendjemanden anzurempeln, läuft auf das gegnerische Tor zu, der Ball kommt durch die Luft geflogen, und „Schweini“ hebt den Fuß und befördert ihn ins Tor. Für einen Moment scheint es nichts zu geben als ein großes Lachen. Und ich stand mitten im Zimmer und habe auch gelacht und war für einen Moment mit dem Fußball, mit mir selber und mit „Schweini“ ganz im reinen. An einem Tag, an dem die Nachrichten ausschließlich bedrückend waren. So alt mußte ich also werden, um mein Unbehagen gegenüber Festivitäten in der Menge mal zu vergessen. Bleibt die Überraschung, daß Fußball glücklich machen kann. Freilich nicht immer.
Vor Jahren rief eine Schauspielerin an und bat mich um Übernahme einer Veranstaltung, die sie wegen Erkrankung nicht gestalten konnte. Das ist nicht unüblich, andere hatten das für mich auch schon getan. Um was geht es? Na ja, eine Abschlußveranstaltung für Jugendweihlinge. „Fahrt aber rechtzeitig los, wegen Fußball.“ Ende der Nachricht. Wir erlebten vor Ort ein Bienenhaus. Zwei Schulklassen bereiteten sich auf die schöne Kultur vor. Das hofften wir. Aber der Zweifel war stärker. In einem sehr großen Saal gab es vielfältige Vorbereitungen für ein Fest. Wir konnten uns nicht vorstellen, daß all dies Kichern, Rennen, Tuscheln und Aufputzen uns und also meinen großartigen Werken gelten sollte. Wie recht wir hatten! Die Jugendlichen warteten auf den Ball, ihren ersten Ball, und es kamen auch schon Musiker, um zu proben. Für uns interessierte sich noch nicht einmal der Kater, der auf der Fensterbank saß.
Die Chefin des Hauses war verlegen, erklärte uns aber putzmunter, wo wir hingehen könnten. „Die Straße runter gibt es ein wunderbares Restaurant von zwei Argentiniern.“ Dort kehrten wir ein in ein völlig leeres Restaurant. Einer der „Argentinier“ erklärte uns in brüchigem Deutsch, daß alles besetzt sein wird. Dabei sah er glücklich aus. Da er keine Anstalten machte, uns wegzuschicken, setzten wir uns und warteten auf den Ansturm von Gästen. Auf dem Bildschirm erschien um 15 Uhr die schöne Meldung, daß nun das Spiel Argentinien gegen Deutschland – oder umgekehrt – stattfindet. Aber Gäste kamen nicht. Das Essen war gut, wir waren den Männern gewogen, sie uns offenkundig auch. Vielleicht würde Argentinien am Abend noch mal spielen, dann vor vielen Gästen? Und wieder gegen Deutschland? Aber wir fragten die „Argentinier“ lieber nicht, denn vielleicht wußten die das auch nicht. Wenig später schoß Deutschland ein Tor, gegen Argentinien. Wir versuchten, kein Gesicht zu machen, als wir sahen, daß die beiden „Argentinier“ sich auf die Schulter klopften, umarmten, lachten und uns anstrahlten. Im Verlauf unserer Anwesenheit gab es noch zwei Tore für Deutschland, und jedes Mal die ungebremste Heiterkeit und die laute Freude der beiden Männer. Wir verfatzten uns noch vor Ende des Spiels und grübelten auf dem Heimweg, ob es sich vielleicht gar nicht um Argentinier, sondern um Bulgaren oder Italiener handelte. Das weiß ich bis heute nicht. Aber seltsam ist doch, daß ich diese Freude und unsere Steifheit nicht vergessen habe.
Aber ich habe noch einen heiligen Grund, mit Rührung an den Fußball zu denken. Mein Opa war ein kleiner Herr und als einziger Ernährer der Familie ein fleißiger Herrenschneider. Er gönnte sich gar nichts. Gut, er sammelte Kuckucksuhren, aber die hingen ja auch nur an der Wand. Sonntags aber verwandelte er sich in einen anderen Menschen. Immer hatte er Angst, daß meine Oma ihm das Essen nicht pünktlich an den Schneidertisch bringen würde. Sie tat auch immer so, als drohe genau das. Aber dann konnte er die Klöße doch zu sich nehmen und sich danach für sein großes Erlebnis einkleiden. Er hatte immer einen steifen Hut auf dem Kopf, immer einen Regenschirm über dem Arm und war immer tadellos gekleidet. Mit einem letzten Blick auf seine Taschenuhr verließ er grußlos seine Schneiderstube und machte sich auf den Weg zur Freude seines Lebens, zum Fußball. Er erzählte nie etwas darüber, setzte sein Erleben nicht den spöttischen Bemerkungen anderer Familienmitglieder aus. Aber dann kam das Toto-Spiel und wurde sehr schnell populär. Die Familie betrachtete Opa mit einem Blick, in dem Hoffnung und Respekt lag. Opa war der Kundige, er verstand was vom Fußball und würde also Reichtum für die Familie einfahren. Opa wettete auch, füllte jede Woche mehrere Zettel aus, aber keine seiner Voraussagen stimmte. Er hat nie richtig getippt. Was immer die Angehörigen vorher über Opa gedacht haben: es gab ein Thema, in dem er sich auskannte, für das er zuständig schien. Jetzt wurde er ausgelacht.
Ich habe Opa geliebt und verstanden, daß sie ihm durch ihre Gier etwas Kostbares zerstört haben. Das tat mir leid.
Könnte es sein, daß andere Menschen – durchaus begeisterungsfähig und ganz offen für Freude in der Menge – eine eher eingeschränkte Vorfreude haben, wenn man ihnen zumutet, in einen Raum zu gehen, sich hinzusetzen und einer einzelnen Person zu lauschen? Die nicht singt und nicht tanzt, sondern sehr lange etwas vorliest? Ich bin eine leidenschaftliche Leseratte, aber ich werde hoffnungslos müde, wenn ich jemandem lauschen soll, der mir einen Teil seines Romans vorliest. Ich bewundere Menschen, die sich auf mich einlassen und sogar bereit sind, über das Gehörte zu reden. Mich begleitet seit fünfzig Jahren diese Angst, jemanden zu langweilen. Ja, bis ins Alter, das ja angeblich so reich ist an Erfahrungen und vor Pleiten schützt, habe ich diese Angst: Sie hätten sich den Weg sparen können, und ihr Abend wäre anders vergnüglicher gewesen.
„Das Beste im Menschen sind seine jungen Gefühle und seine alten Gedanken“, hat der französische Moralist Joseph Joubert gesagt. Stimmt!
Joseph Joubert (1754–1824)
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