Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Kohls „Mädchen“ war eine erwachsene Frau, eine erfahrene Wissenschaftlerin, schon im Bundestag, aber noch nicht Kanzlerin, als das Fernsehen uns einmal in eine gemeinsame Talkrunde einlud. Wir lehnten das beide ab. Sie meinte, sie wisse, um wen es sich handle, aber sie möchte diese Begegnung nicht. Ich wollte sie ebensowenig. Nicht, weil uns eine grundsätzliche Anschauung der Welt trennte, sondern weil weder sie noch ich durch gemeinsames Plaudern etwas verändern würden. Das ist nun 26 Jahre her. Ich habe sie geachtet für ihre erstaunliche Kraft, ihre Fähigkeit, noch aus langweiliger und ergebnisloser Beratung umgehend ins Flugzeug zu steigen, bis ans andere Ende der Welt zu fliegen und dort, als wäre sie ausgeruht, wieder eine Männerschaft abzuschreiten, wieder einem vielleicht verbündeten oder andersdenkenden Mächtigen mit scheinbarer Frische und Aufgeschlossenheit zu begegnen. Sie denkt, mag sein, nicht mehr so absolut wie am Anfang ihrer Mächtigkeit. Aber zu merken ist das nicht.
Ich empfinde Unbehagen, wenn die Tochter eines unantastbar lauteren Pfarrers mir antastbar erscheint. Sie hat in Moskau studiert, und ich habe nirgendwo gehört, daß es eine Leidenszeit gewesen wäre. Sie hat also gelebt, in einem Land, das immer noch um 27 Millionen Getöteter und Ermordeter trauert. Da wurde ein Staat mit einer rechtmäßig gewählten Regierung durch einen verlogenen Nichtangriffspakt getäuscht und anschließend alles Leben niedergewalzt. Bis dieses Land zurückschlug, siegreich.
Seit die NATO Rußland neu provoziert, hat sie, die deutsche Kanzlerin, sich auf die Seite der NATO gestellt, angeblich durch einen Vertrag dazu gezwungen. Ich fürchte, sie ist mit ihrem Herzen dabei. Noch immer spricht sie das Wort Krim als Begründung für alle Drohgebärden und sichtbares Vergrößern kriegerischer Ausstattung aus. Mit der Ukraine hat es ja nicht geklappt. Der Plan war sehr gut: ein weltberühmter Boxer, in den USA ausgebildete „Politiker“, ein Platz namens Maidan heiliggesprochen, und Opfer, wer immer sie dazu gemacht hat. Ein paar ausgelassene Mädels, die eine Kirche zu schänden versuchten und dabei die Pornographie zu Hilfe nahmen. Aber dann gab es etwas, das ein unerwartetes Aufhalten mit sich brachte. Die Ukrainer, die einen schwierigen Alltag zu leben hatten, waren hellhöriger, als man gedacht hatte. Fast unerwartet waren sie des Gequatsches müde. Sie faßten zu den „rechtmäßig gewählten“ neuen Volksvertretern an der Spitze nicht das Vertrauen, das gebraucht wurde. Die Ukraine in der NATO – das wäre die Nähe an der Wand zu Rußland gewesen. Es hat nicht geklappt. Nun gibt es einen neuen Plan. Leider lädt den auch Obama auf sein Gewissen. Ja, wir haben zu viel von ihm erwartet. Der Friedensnobelpreis schien ein Vorschuß auf eine Haltung, die der Welt geholfen hätte. Nun aber erleben wir den nächsten Versuch, Rußland zu provozieren.
Die Russen wie die Ukrainer haben zu viele Opfer zu bringen, können sich ihrer Entwicklung als wirtschaftlich tüchtige Nationen nicht ausreichend widmen, und vielleicht haben sie ja auch noch viel anderes aufzuarbeiten. Das geht uns nicht mehr an, als wir es wie jedes andere Land mit Interesse, Einwänden und Zuneigung beobachten, das eine wie das andere Land. Was aber ist in die Kanzlerin gefahren, daß sie vor einem Bundestag mit rechtmäßig gewählten Volksvertretern sehr unterschiedlicher Weltanschauung wie ein gemeinsames Credo verkündet, daß sie unerschütterlich und von ganzem Herzen hinter den Plänen der NATO steht? Ich habe genau hingehört, aber sie hat als einzige Begründung wieder die Krim genannt. Und sie weiß doch, warum die Wahlen auf der Krim abgehalten wurden, und was ihr Ausgang verhindert hat. Die NATO kann diesen wunderbaren Hafen nicht für ihre großen Kriegsschiffe annektieren. Das hat Putin mit den Ereignissen auf der Krim verhindert. Auf mich wirken die Einwände kläglich. Nun aber sehe ich, daß die baltischen Länder in die Lage gebracht werden, ihre späte Rache an den Russen zum Ausdruck bringen zu dürfen. Anfang der 70er Jahre war ich in Estland, Lettland und in Litauen. Dort haben Studenten und andere Tätige über die Zeit erzählt, als sie unter sowjetischer Herrschaft oder Obhut standen. Mein Begleiter war ein Fotograf, der dort viele Freunde und Kollegen hatte. Gastfreundlichere Menschen habe ich kaum erlebt. Wo immer wir zusammensaßen, hat sich mir ihre Großherzigkeit unvergeßlich gemacht. Außer ihren „heiligen“ Studentenkappen hätte man ihnen wohl auch den Küchenschrank raustragen können. Aber auch die Linken unter ihnen sprachen nur bitter über jene Zeit, als die eigene Kultur und die eigene Geschichte in der Schule und im Studium nur negativ verarbeitet wurden. Alles Russische wurde über die eigene Herkunft und die eigene Heimat gebreitet. Da ist viel Trauriges noch aufzuarbeiten. Aber selbst in Estland, in dem die Anerkennung der Nazis scheinbar freudig aufgenommen wurde, gab es Widerstand und Opfer im Kampf gegen sie. Ebenso nachdrücklich wie in Litauen.
Wir leben in einem Nachkriegsstaat, der sich eine demokratische Verfassung gegeben hat. Mit den dort festgeschriebenen Idealen und humanistischen Grundwerten können wir alle miteinander leben.
In Frage zu stellen ist die Fragwürdigkeit der Begeisterung „unserer“ Verteidigungsministerin, der vielleicht alle Mädchenträume in Erfüllung gegangen sind. Und es erschüttert mich, wie entschlossen unsere Kanzlerin ans Mikrofon tritt und sich auf die Seite eines Diktators stellt, der das Volk gerade nach einem rasch niedergeschlagenen Putsch seiner Rechte beraubt. Die Haltung unserer Regierung zu den Ereignissen in der Türkei wird, so scheint es mir jetzt, Ende Juli, beim Wählervolk ernüchternd genug ankommen. Die kleine Ansprache unserer Kanzlerin gleich nach der Niederschlagung des Putsches vorschnell ausgesprochen, war entweder unbedacht oder sollte dringend eingeschränkt werden. Da reicht es eben nicht aus, wenn andere Bundestagsabgeordnete hinzufügen, daß in der Türkei auf die Menschenrechte geachtet werden soll. Schon jetzt scheint es immer noch um einen Vertrag zu gehen, der aus dem „Wir schaffen das“ ein „Wir schaffen das weitgehend ab“ machen soll. In der Türkei regieren Beamte, denen man weder einen Flüchtling noch ein ganzes Volk anvertrauen sollte. Von den Ereignissen dort – und besonders, wenn auch die ertragen werden – können sich weitere Schrecknisse ableiten. Ich habe bisher nicht gehört, daß sonst rasch und erfolgreich eingreifende Schützer von Grundrechten einen Plan haben oder sogar eingreifen. Ja, es ist für eine einzelne Stimme zu gefährlich. Aber noch gefährlicher ist politisches Handeln, das in Europa schon einmal zu einem furchtbaren Ermächtigungsgesetz geführt hat.
In einem kleinen, aber anrührenden Lied von Wera Küchenmeister und Kurt Schwaen heißt es: „O lasset uns im Leben bleiben / weil jeden Tag ein Tag beginnt / O wollt sie nicht zu früh vertreiben / alle, die lebendig sind.“
Geht es uns etwas an? Hinten in der Türkei? Ja, alles! Wenn es ums Leben geht, dann ohne Ansehen der Person. Wie in der Türkei, nach dem rasch niedergeschlagenen Putsch, das Recht gebeugt wird, verlangt Einspruch und Gegenkraft. Europa steht aus vielen Gründen derzeit auf dem Kopf. Europa hat den schon mehrmals verloren. Nicht vorherzusehende Anschläge auf die Zivilbevölkerung, die jeden Moment und überall Schrecken verbreiten, ergeben eine Unsicherheit, die verständlich ist, aber schon zu lange währt. Noch scheint es, niemand wolle sich zur Abwehr mit den anderen zusammentun. Es ist keine Zeit für wirkungslose und vorschnelle Verkündungen am Mikrofon.
Wer möchte nicht im Leben bleiben,
die Sonne und den Mond besehn,
mit Winden sich umherzutreiben,
und an Wassern stillzustehn?
Wer möchte nicht im Leben bleiben,
den Mensch und Tieren zugestellt,
wer ließe sich denn gern vertreiben
von dieser reichen, bunten Welt?
O lasset uns im Leben bleiben,
weil jeden Tag ein Tag beginnt.
O wollt sie nicht zu früh vertreiben,
alle, die lebendig sind!
(Wera Küchenmeister / Kurt Schwaen)
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