Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Ich habe das Glück gesehn. Kein vom Himmel gefallenes. Kein von der Natur geschenktes. Kein durch ein Los gewonnenes. Keins, über das viel gesprochen worden wäre. Ein gelebtes Glück, das anderen eher glanzlos erscheinen mag. Das Glück ist eine alte Frau, zierlich, vogelleicht, die ihren Reichtum an Erfahrung nicht ausstellt. Man muß ihr abverlangen, was man wissen will. Ich sitze da und schaue sie mir an. Ganz offen, denn sie kann kaum noch sehen. Ihr Kopf arbeitet mit einer Genauigkeit, um die ich sie beneide. Ich sehe, daß sie ungewöhnlich schmale, lange Hände hat mit sehr langen Fingern. Sie hält die Hände immer in Höhe ihres Mundes. Sie spricht sehr deutlich, eher langsam. Das kann durch ihr genaues Denken kommen, vielleicht aber ist das auch einem Teil des Glücks zu verdanken, nämlich den 81 Monaten Schwangerschaft, die sie gelebt hat. Sie hat neun Kinder auf die Welt gebracht, und es gelingt mir nicht, ihr auch nur eine Klage über die körperlichen Zumutungen zu entlocken. Da sieht sie mich erstaunt an, als ich sie frage, ob sie nicht doch einmal gedacht haben mag, es sei genug. Immer und jedes Mal Freude, Vorfreude, die ganze Zeit lang, bis es sich zu den anderen Kindern gesellte. Wie konnte das gehen? Damals, ohne die vielfältigen Erleichterungen im Haushalt.
Er war ihr einmal an Dienstgrad weit überlegen – der einzige Abstand, den sie in einem ganzen langen Leben zueinander hatten, aber arbeiten konnte sie da schon. Sie war Krankenschwester, Sachbearbeiterin, Trümmerfrau, und die Steine wurden damals in die bloße Hand genommen und abgeklopft, Handschuhe gab es für die Trümmerfrauen noch nicht. Als sie ihren späteren Lebensgefährten zum ersten Mal sah, dachte sie: „Oooh.“ Ein unverwöhntes Mädchen aus einer ostpreußischen Flüchtlingsfamilie. Sie war dann auch Sekretärin, und einer der ganz großen Momente in ihrem Leben war der Augenblick des Aufgebotes. Um russisch zu lernen, ließ sie sich in die erste Offiziersschule für Dolmetscher versetzen. Da hatte sie noch Zeit dafür. Sie sagt: „Die Liebe war vom ersten Tag an.“ Ihr Mann wurde nach Prenzlau versetzt, als Regimentskommandeur. Sie schaffte es, selbst nach Prenzlau versetzt zu werden, und nahm ihre Mama mit, die in Weimar allein lebte. Von diesem Zeitpunkt an lebte sie das Leben ihres Mannes und das eigene immer mit den Bedingungen, die ihr seine Entwicklung bereithielt. Offizier war er, Arzt wollte er werden. Aus beengten Wohnverhältnissen in die nächsten, die nicht besser waren, richtete sie die Möglichkeit des Zusammenlebens der wachsenden Familie immer wieder ein. Er sollte Arzt werden, so wollten sie es beide. Dieser Traum war für ihn erfüllbar. Allerdings mußte er dazu nach Jena. Nach einem Jahr konnten sie ihre Trennung beenden und sich über die Geburt des dritten Sohnes freuen. Sie lebten in Jena mit Hilfe der Großmutter, den Alltag bewältigend, mit sehr wenig Geld, ausprobierend, was man an einfachen Gerichten auf den Tisch bringen konnte. Ich frage sie, ob sie nicht, etwa nach dem dritten Kind, manchmal den Gedanken hatte, es wären nun genug Kinder, und sie könne ihre eigene Bildung und ihr Streben besser verwirklichen. Da sieht sie mich erstaunt an: „Aber dann wurde doch unsere erste Tochter geboren. Wir waren so froh. Nach drei Söhnen die erste Tochter. Natürlich hatte ich reichlich zu tun. Damals gab es keine Windeln aus Zellstoff. Es mußte alles gewaschen und gebügelt werden, um die Kleinen zu versorgen. Aber danach kamen wieder zwei Söhne. Außer gesellschaftlicher Arbeit konnte ich nicht mehr in eine hauptamtliche Tätigkeit zurückkehren. Aber ich war mehrere Jahre als ehrenamtliche Parteisekretärin im Wohnbereich zugange und war im Elternaktiv der Schule.“ Irgendwann hatten sie es geschafft – er war Arzt, sie konnten in Berlin eine Wohnung beziehen und schließlich ein Haus mieten. „Bei neun Geschwistern“, sagt sie, „muß man Regeln erfinden, damit jedes Kind sich beachtet und geliebt fühlt. Wir haben es so gemacht: An unserem großen Familientisch war jedes größere Kind Pate für ein kleineres. Der Pate mußte auf saubere Hände und auf die Tischmanieren achten. Aber auch darauf, daß die Bedürfnisse des einzelnen Kindes befriedigt wurden.“
In einem Kindergarten in Swanetien (1974)
Ich gucke sie mir an und denke: Wie hat die das gemacht? Ich war schon ziemlich gefordert, als ich mit drei Kindern lebte und nebenbei versuchte, mich als Freischaffende zu entwickeln. Sie sagt, daß jedes Kind anders ist, auch wenn es neun Geschwister sind. Und mit jedem Kind muß man anders umgehen. War der Große ruhiger, so wurde ihm ein Kind zugeteilt, das sehr lebhaft war. Das ist merkwürdig gut gelungen. Die Paten und ihre Kleinen sind sich auch als erwachsene Leute näher. „Alle haben gelernt und studiert, alle stehen im Berufsleben und haben mir zwanzig Enkelkinder und vierzehn Urenkel geschenkt, bis jetzt. Bisher war immer eins unterwegs, wenn woanders gerade eins geboren war.“ Das Glück, das ich sehe, spüre und erfahre, war eine große Liebe, die sich in 65 Jahren nicht in ein aufdringliches Zunahesein verwandelte. Sie wurden einander nie wie Verwandte, die man zu gut kennt. Woher kam das? Der Mann wurde immer übermäßig gefordert, hatte eine Karriere, die ihm nicht erlaubte, viel Zeit für die Familie aufzuwenden. Und dennoch erinnern die „Kinder“ seine Nähe. Und die der Ma, die den Pa immer an die erste Stelle setzte und doch verstand, alle Kinder so nahe zu halten, daß sie bis heute über ihre Kindheit lächeln, lachen und in ihren Erinnerungen nahezu weise sind. Daß diese Person, diese kleine Frau, den Tod ihres Mannes immer noch nicht als eine Trennung lebt, das senkt sich mir tief ins Herz. Wenn sie abends schlafen geht, legt sie zwei große Fotos von ihm auf das Bett, in dem er jahrzehntelang neben ihr geschlafen hat. Am Morgen erzählt sie ihm, was sie für den Tag vorhat, schaut sich eine Weile sein Bild an und, so sagt sie, fühlt sich danach besser.
Der Sohn, der mich zu ihr gebracht hat, der uns reden ließ und dann doch noch teilnahm, hat die Werte von seinen Eltern behalten und lebt so. Diese Wärme ist echt, auch die Zuständigkeit. Wir hatten uns dienstlich verabredet und herein kam ein Freund. Leicht hat auch er es nicht gehabt. Aber das gilt in dieser Familie als normal. Man bewältigt Konflikte, sogar den Untergang eines Staates, der einmal Heimat war.
Ich weiß nicht, wie lang die Strecke dieser kostbaren Person ist. Ich glaube, darüber denkt sie nicht unentwegt nach. Zu den Kindern hält sie Kontakt in der von ihr erwünschten Weise. Die Enkelkinder sind Lieblinge, aber man kann ja nicht mit fast fünfzig Nachkommen ständig telefonieren. Und nur selten zusammensein. Manchmal kommen alle. Schon bemerkenswert, daß sie sehr unterschiedliche Charaktere sind. Die Anekdoten erklären das. Angst hatten die Kinder vor ihren Eltern nicht. Sie wurden weder geprügelt noch in ihrer Würde verletzt.
Die kleine zierliche Person vor mir hat eine Lebensleistung vollbracht, an der ich mich nicht messen kann. Worauf sie verzichtet hat, war ihr kein Wunschtraum und kein Konflikt. Sie hat die neun Kinder ausgetragen, über körperliche Befindlichkeiten oder gar Einschränkungen ist ihr kein Wort zu entlocken. Ich hatte es beim dritten Gespräch eigentlich erwartet, daß sie nun doch mit unerfüllten Wünschen, mit einer Traumreise oder zur Abwechslung mal einer schönen Einsamkeit rausrückt. Aber da spreche ich eine Fremdsprache. Ohne ihren Mann? Nur wenn es durch seine Arbeit sein mußte.
So sind wir heutzutage in der Regel nicht. Keine von uns. Ich denke, wir beide bleiben, wie wir nun eben geworden sind.
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