Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Wir Mittelmäßigen sabbeln den ganzen Tag und haben eigentlich nichts zu sagen. Dabei sind wir umgeben von Gelegenheiten, uns aufzumachen. Eine weithin sichtbare sind zum Beispiel Wahlen, wie man eben in Berlin sehen konnte. Sind diese Zusammenrückenden, tapfer an der Brille Fummelnden, Zuversicht aus sich Pressenden dieselben Leute, die ihren Anteil haben an allem, was dem Bürger bei seiner Entscheidung die Hand geführt haben muß? Überforderte Persönlichkeiten, die den Mißstand „Kein Personal“ duldeten? Bei der Auswahl von „Herzlich willkommen“ oder „Ab nach Hause“ herzlos Einzelfälle zuließen, die sogar ein paar Zeitungen empörten. Aber „Nicht gestempelt“ war eben nicht gestempelt.
Sind das von uns mittelmäßigen Bürgern Auserwählte? Solche, die tote Amtsstunden zuließen? Welche, die gegen das ganze normale Alltagsleben von ganz normalen Familien anstießen?
Da stehen sie, die uns eben noch von teuren Wahlplakaten ein schöneres Leben verkündeten. Ja, sie haben wahrscheinlich und möglicherweise irgendwie einen Fehler gemacht oder waren an einem solchen beteiligt, haben ihn schweren Herzens zugelassen. Einen. Nicht etwa zwei oder zweihundert. Sie haben zugegeben, wo sie hätten verhindern sollen, was sie aber nicht konnten. Die anderen waren ungeeignet, waren schuld, daß unsere Großstadt, inzwischen so was wie Weltmetropole, den Reichen so reich, normalen Bewohnern zunehmend problematisch wird. Da sind wunderbare mittelmäßige Leute drin, Mieter, aber andere stehen auf der Straße und möchten auch wohnen, was aber immer schwieriger wird, weil das Segment Wohnung sich als profitable Ware entwickeln durfte. Die Wohnungsnot beruht auf falschen Entscheidungen von Verantwortlichen, die sich in ihrer vielleicht verständlichen Mittelmäßigkeit erpressen ließen.
Sieh hin: Der eine nimmt den Hut und kann nun keinen seiner Erlasse von vorher zurücknehmen. Wie er geht, tut er, als habe er einen reich gedeckten Tisch wegen unzulänglicher Gastgeber verlassen; der andere wartet noch auf einen Tritt in den Hintern, und die da blinzelt durch ihre Brille, ob sie unterm Regen durchkommt. Sollte ich für den bisherigen Senat oder den kommenden Bundestag besänftigend erwähnen, daß wir uns das Warten auf die Gloriole einer unbestechlichen, selbstbewußten, meinungsfesten wie auch lernwilligen Persönlichkeit fast abgewöhnt haben? Wir Mittelmäßigen leisten ja kaum etwas dazu. Weil wir zuwenig Veränderungen durchsetzen und meinen, es genüge, sie zu verlangen. Es gibt unter den jungen Politikern einige, die es werden könnten. Sie melden sich auch zu Wort, die Außergewöhnlichen, und erkennen unter den vielen Altvorderen durchaus den Gleichgesinnten.
Es macht Hoffnung. Aber Solidarität findet die Wahrheit derzeit kaum. Na ja, es mangelt schließlich allerorts an Personal – in den alten und den sogenannten neuen Ländern Deutschlands gleichermaßen. Aber bleiben wir doch bei unserem eigenen öffentlichen Raum. In Berlin, einer blühenden Rollkofferstadt mit prachtvollen Vermieterzahlen …
Wir erleben den Anschein blühender Prosperität, Architektur, Kultur und Kunst, der Zunahme von jungen und betagten Unternehmern, deren Gedanke ist: ihr Geld loszuwerden an eine Baustelle, die nicht nur über Neubürger verfügt, die reisen wollen, in nie gekannte Früchte beißen und hoffen, daß ihr soziales Leben als Kleinbürger ohne Abstriche und Konflikte weitergeht. Durch eigene Initiative oder einsichtige Obrigkeit immer weitergeht. Immer weitergeht.
An Manieren fehlt es. Die verkommen, und das ist zu bedauern. In Bus und Bahn hoffen zittrige alte Damen und Hochschwangere vergeblich auf einen Sitzplatz, während sich erlebnishungrige junge Menschen ohne Aufblicken mit ihren Handys beschäftigen. Sitzend!
Wohnst Du gerne in Berlin? Versuch doch einmal, mitten in unserer Millionenstadt deine abgelaufene Parkvignette verlängern oder erneuern zu lassen. Wenn du hungrig bist auf Unvergeßliches, dann wähle diesen im Leben ja gelegentlich vorkommenden Behördengang. Du begegnest Befugten, die dir erstaunliche Dinge über ihr Arbeitsleben verschweigen, oder andeuten. Als geübter Bürger wirst du zur Verrichtung dieser eigentlich einfachen Sache einen Lehrgang in Vergeblichkeit zu überstehen haben. Falls du dich in besagter Situation an deinen gesunden Menschenverstand erinnerst, dann denkst du vielleicht, sie könnten nach einem Blick in ihre Papiere das Ding eigentlich in deinen Briefkasten stecken oder es dir sogar ohne Briefmarke schicken. Etwa in der Mitte erstaunlicher und vergeblicher Anläufe nimmst du dir vor, von nun an bei der Kommunalpolitik persönlich einzugreifen. Vielleicht läßt du dich sogar als Interessenvertreter auf ein Engagement ein. Bei dem Versuch, an die Verlängerung oder eine neue Vignette zu kommen, wirst du durch Wortfolgen von „Mitarbeitern“ an deiner Eignung dafür zweifeln. Du warst im Morgengrauen zu spät dran und hast nicht an die Glaubwürdigkeit der Auskünfte durch das Internet geglaubt. Dann hättest du wissen können, was dir blüht. Aber verlier deine Hoffnung nicht ganz. Irgendwann wirst du dein Ziel erreichen. Du bekommst die Vignette.
Wo wäre Begeisterung herzunehmen, wenn über einen einzigen ausgesprochenen oder verweigerten Satz eines Amtsbetrauten keine Ruhe in deinen Alltag einkehrt. Du bist wieder jener Griesgrämigkeit begegnet, bei der sich Lippen straffen, Augen blicklos sein wollen und Mündern ohne ein Lächeln. Es gibt eine besondere Art derzeitiger Berufspolitiker, die untauglich sind, für ganz normale Leute zuständig zu sein. Es gibt auch solche, die jedem Satz hinterhernicken, jeder Silbe, solange du redest. Und wenn du sprachlos davongehst, reihen sie dich ein in die Menge der Belästiger.
Ich wurde in Berlin geboren und habe fast immer in Berlin gelebt; die erste Arbeitslosigkeit der dreißiger Jahre zu spüren bekommen, die dadurch ausgelöste Armut. Ich habe als kleines Mädchen die Pogromnacht erlebt und weiß noch so viel davon, daß ich mich über mein Gedächtnis wundere. Wir wurden nach den ersten Bombenangriffen evakuiert, vorher haben wir immer gehofft, daß die Entwarnung erst nach Mitternacht kommt, weil wir dann am nächsten Tag schulfrei hatten. Als ich nach Berlin zurückkam, gab es außer am Karlsplatz keinen einzigen Baum mehr, und es roch nach Leichen. Ausgerechnet unsere Bruchbude, unser miserables Haus am Georgenkirchplatz, stand noch. Wir haben gehungert, als aus den Trümmern die Anfänge einer neuen Hauptstadt erstanden. Es war lebensgefährlich, hier zu wohnen. Aber wir waren Berliner. Ich habe diese Stadt immer geliebt. Ich liebe sie. Es tut mir weh, welche Muffigkeit, welche Übellaunigkeit und welche dümmlichen Ausreden dafür meine Stadt durchziehen. Die Erfahrungen meines Lebens sagen mir, das kommt nicht von unten. Das kommt aus den höher gelegenen Amtsstuben: diese zunehmende Niedertracht gegen Schwächere, diese übelriechende Behaglichkeit bei der Verneinung eigener Haltung und Verantwortung zu den großen Themen dieser Erde. Es geht um die Gefährdung unserer Kultur und eigener Verdienste. Berlin hat überlebt, auch dank unserer Lebensarbeit.
Ein kurzes Klopfen an Stirnen genügt nicht. Wir gefährden gerade wieder unsere Verantwortung für das sogenannte Große und Ganze. Wiederholungstäter ja, auch ich. Das macht uns verdammt mittelmäßig. Man weiß, daß ein solcher Standard kaum von selbst zu sinnvoller Lebendigkeit führt. Wenn wir nichts dagegen tun, ähneln wir dem fast vergessenen Großraumflughafen Berlin-Brandenburg.
Ich möchte das gern verändern. Das geht leider nicht. Kein Personal!
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