RotFuchs 229 – Februar 2017

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

In meinem Leben als erwachsene Frau gab es eine lange Zeit, in der ich mir, wie ein persönliches Yoga, auferlegt hatte: Niederlagen gibt es, aber aus diesem Liegen muß ein Auferstehen folgen, das eine neue Erkenntnis mit sich bringt wie einen blumengeschmückten Hut. Und danach muß man sich dann eben richten. Man kann das lernen, auch als Weib: Schläge zu ahnen, sie abzuschwächen und reifer aus aller Unbill hervorzugehen. Das nennt man dann Lebenskunst, und die Erfahrung muß jonglieren zwischen Anpassung und Widerstehen. Zumal einem als weibliche Person, mit zwei Füßen auf der Erde und immerhin so wirkend, als habe man zwei rechte Hände, Bemerkungen zuteil werden wie „Ja, ihr habt’s leichter gehabt, weil ihr es schwerer gehabt habt“. Das klingt nahezu wie Neid auf den Hunger und die Kälte im Winter ’46 oder die Aufbaujahre, die für jede Familie ihre Einschränkungen bereithielten. Ja, wir hatten irgendwann eine Wohnung mit Fernheizung, in der Küche nach und nach bezahlbare Geräte, die das Leben erleichterten. Aber das meinen die Stimmen nicht, in denen der wehmütige Neid aufklingt: „Du hast die ja alle noch gekannt.“ Ja, ich habe sie noch gekannt. Jene unvergessenen Persönlichkeiten, unter denen sich die Lehrer fürs eigene selbständige Dasein fanden. Ja, ich habe sie noch gekannt, und keinen von ihnen vergessen. Das ist der Vorteil des Alters. Das Sieb im unzulänglichen Hirn wird nicht gröber, sondern feinmaschiger. Wer waren sie? Sie hatten nicht nur überlebt, sie waren auch alle immer noch in ihre Lebensarbeit vertieft. Sie suchten noch Austausch und Streit über sehr umfängliche Probleme, Lösungen auf dem Weg. Es ging ja um „Nie wieder“, um den Umgang mit Politik und ihren Anteil an Kultur, und so waren sie bereit zu Austausch und Streit.

Ich sehe sie vor mir. In den Räumen, in denen man sich traf, um zu debattieren, einander zu widersprechen oder ähnlichen Sinnes zu sein. Sie waren nicht vorsichtig, wenn auch, so glaube ich mich zu erinnern, an schwierigen, nicht gleich zu beschwichtigenden Streitpunkten doch manchmal unvermittelt zurückgehalten, vielleicht erkannten sie aus Erfahrungen entstandene Signale früher als wir. Wir, die Nachdrängenden. Ich denke an Jeanne und Kurt Stern, die immer nur zu zweit antraten, oder Henryk Keisch. Oder meine Freundin Eva, die das „Haus der schweren Tore“ überlebt hatte. Ja, ich habe sie gekannt. Jene mit dem geretteten Wissen und den Plänen zum Bessermachen. Auch Anna Seghers, deren Unterschrift aus dem Jahr 1962 meinen Eintritt in den Schriftstellerverband besiegelte.

Unvergeßlich, was mir Peter Edel mit auf den Weg gegeben hat. Und ja, ich hatte das Glück, den Jossel Wander zu kennen. Und ich bin manchmal erstaunt, wie wenig man doch vergißt. Was mich so tief beeindruckt hat, das war die Kraft, die auf schwerstem Lebensweg überlebt hatte, und sich dann im scheinbar leichteren Dasein immer noch erhielt. Sie wurde auch neu gebraucht. Als die Ärzte Peter Edel nur noch ein paar Wochen Lebensatem zugestanden, hat er fünf Jahre Leben und Arbeit drangehängt.

Wir können uns daran nicht messen. Weder am Grad der Auferlegung noch an der Leistung, mit ihr umzugehen. Heißt das, wir hätten eigentlich allen Grund, die Erleichterungen in unserem Leben als eine Art Befreiung anzusehen? Ich wollte gern glauben, daß „bei uns“ Unerträglichkeiten eigentlich ziemlich selten sind. Daß es doch „bei uns“ keine antagonistischen Widersprüche mehr gibt.

Aber das ist nicht die Wahrheit. Am Morgen stehe ich auf – geübt ist geübt! – und stelle mich darauf ein, die neue Unerträglichkeit zu den alten zu fügen. Und wieder und wieder damit fertig zu werden, daß es sie gibt. Mit manchen ist das möglich, denn da sind die Merkmale deutlich. Neues daran wird verstaut, vielleicht unbesehen weggesteckt. Aber die Schläge kommen dichter und treffen besser. Wer waren wir, wer waren wir auch? Ich erinnere mich, daß wir Rosen für Angela geschickt haben, und es war uns nicht peinlich, konnte uns nicht aufhalten, wenn mancher etwas von Kitsch murmelte. Ich hatte das Glück, Angela Davis zweimal zu erleben. Zwischen der ersten und der zweiten Begegnung lagen fünfundzwanzig Jahre. Und sie hat noch immer darüber gesprochen, was ihr unsere Solidarität bedeutete. Warst du damals dabei? Hast auch du irgend etwas tun wollen oder getan für die fünf kubanischen Opfer der amerikanischen Justiz? Sind dir die Tränen gekommen, als sie befreit wurden? Scheint es mir so, oder läßt das Bemühen um Mumia Abu-Jamal nach? Er ist nicht mehr in der Todeszelle, schwer krank, jeden Tag und vermutlich unschuldig in strenger Haft.

Aslı Erdoğan

Aslı Erdoğan

Oder denken wir an eine andere Gefangene, ihr Name ist Aslı Erdoğan. Sie schreibt in einem aus ihrer Zelle geschmuggelten Brief an die „Süddeutsche Zeitung“: „Gefängnisalltag … Stacheldraht, Zellen, Schlösser, Handschellen – das alles … läßt die Angehörigen der Insassen erschauern. Aber ,die da drin‘ gewöhnen sich schnell an solche Details … Woran man sich aber nicht gewöhnt, ist die Kälte … (sind) diese Autos, mit denen Gefangene transportiert werden (sie erinnern mich an Särge).“ Sie schreibt weiter: „Willkür, Mobbing, Rechtlosigkeit bestimmen unser Leben.“ Aslı vegetiert seit über drei Monaten unschuldig in einem türkischen Gefängnis. Ihr wird Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft fordert lebenslängliche Haft unter verschärften Bedingungen. Diese Frau zählt zu den bekanntesten türkischen Schriftstellerinnen, sie leidet an Diabetes und Asthma. Nach dem mißglückten Putsch wurde sie verhaftet. Aslı Erdoğan gehörte zum Beirat der inzwischen geschlossenen Zeitung „Özgür Gündem“, einem symbolischen Gremium. Der Brief enthält Namen von Persönlichkeiten wie Ragip Zarakolu, der für den Friedensnobelpreis im Gespräch war, und den der Sprachwissenschaftlerin Alpay. Ich sehe das Gesicht von Aslı auf dem Foto. Sie sieht mich nicht an. Wohin ihr Blick geht, kann ich nicht erkennen. Aber er trifft mich in der Seele, dort, wo sie empfindlich geblieben ist. So empfindlich wie am Anfang aller Bemühung, aus dem Leben ein sinnvolles Ganzes zu machen, mehr als für die eigenen Bedürfnisse nötig war.

Der Versuch, sich nicht mit falschen Entrüstungen aufzuhalten, Gelassenheit zur Leidenschaft zu fügen, muß immer wieder erneuert werden. Vielleicht kann sich niemand schützen vor der Erkenntnis, daß es zunehmend antagonistische Widersprüche gibt. Es gibt sie. Waren Moskau und Berlin je liebevolle Schwestern?

Ich möchte trotz aller Anfechtungen, die ich ringsum sehe und selber in Kauf nehmen muß, nie aufhören, daran zu glauben, daß es sich lohnt, mehr zu tun, als man für sich braucht. Und jene Kraft, von der ich immer noch zehren kann, weil ich sie gesehen und erlebt habe, jene bewundernswerte Kraft, die in Spanien oder im Versteck oder im fernen, unheimatlichen Land noch lebte, noch aufmuckte, noch Pläne schmiedete für eine Art Rückkehr, die will ich nicht aufgeben. Ob es von jedem Punkt des Schmerzes aus eine Heimkehr gibt, darüber rede ich mit Freunden, die ich zum Glück heute kenne, und vor denen ich Respekt habe. Respekt so wie damals.

Wo wär denn Heimat
wenn sich keins ums andre schert
wo bleibt Vertrauen
wenn sich keins mehr wirklich wehrt
was bleibt von Heimat
wenn der große Besen kehrt
was bleibt von Heimat
wenn sie keine Liebe lehrt
was bleibt dann von Heimat