Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Das Jahr 2016 scheint der Erinnerung gewaltig: politisch, kulturell, völkerrechtlich! Es braucht seine eigenen Schubladen. Nicht nur für Bilder aus dem eigenen Leben, sondern aus vielen markanten Situationen. Da schien sich doch mehrmals Gewaltiges zu entscheiden, das dann als Pointe bei den Kabarettisten landete. – Im Moment glaube ich, daß beinah nichts im Leben zum ersten Mal geschieht.
Als sich Frankreich zu Recht gegen seine faulen Ausbeuter und all die ererbten, unverdienten, scheinbaren Rechte erhob, und als die Revolution gesiegt hatte, krönten die Franzosen den Triumph der Befreiung durch eigene Schmach. Auf dem Schafott starben neben den Schuldigen auch die Unschuldigen. Entweder durch Geburt Gezeichnete, schuldig durch Erbrechte. Oder durch Beispiel, weil sie nicht vorgesehene Wege gegangen waren, oder wegen der Bindungen, die sie eingingen. Da starben auch künftige Unsterbliche, Dichter vielleicht, wundersame barmherzige Mütter, sorgende Väter, Erbauer, Erhalter, normale Bürger, die zum Ruhm der alltäglichen Mühen beigetragen hätten.
Ich erinnere mich an einen Film, in dem eine junge Novizin, jüngste Tochter einer adligen Familie, eine ganz hellwache junge Frau, den Leidenden zugetan, wegen ihrer Herkunft geköpft wurde und wie sie, einsichtig in sich ruhend, auf das Schafott ging. Gut, daß sie keiner vorher auf Herz und Nieren geprüft und ausgefragt hat. Vielleicht hätte sie sich nicht an jeden Augenblick ihres falschen Lebens, ihrer falschen Herkunft und Zugehörigkeit erinnern können.
Vergleiche hinken immer, ich weiß das. Das vergangene Jahr braucht eben wirklich seine eigenen Schubladen für Erinnerungen, von denen nicht wenige aus Verdrängungen bestehen. Das gilt nicht mehr, das gilt nicht nur im eigenen Leben, sondern auch für viele weltweite Situationen, in denen sich Gewaltiges vorzubereiten schien.
War es nicht so, als stünden Millionen Menschen die Haare zu Berge, weil der neue Bewohner des Weißen Hauses nicht nur nichts versprach, sondern sogar androhte, was konkret zu Konflikten und Brüchen führen mußte? Das Mindestmaß an internationaler Verbindlichkeit und zu erhoffender Annäherung der Interessen und Gebundenheit schien gefährdet, wie alles, was aufgeholfen hätte. Bedrohlich deswegen, weil es auf einmal naheliegend schien, nie wirklich gesicherte Rechte einfach zu streichen, etwa eine nie gesehene Mauer zu errichten oder eben erst gefundenes Recht ad absurdum zu führen.
Mitten in all den Befürchtungen und Auslegungen habe ich geahnt, daß es nicht lange dauern wird, bis die neuen Begünstigten aus ihrer Herausgehobenheit eine irgendwie doch auch einleuchtende Richtigkeit herleiten würden. Wenn man die Presse – bis auf freche Ausnahmen – besitzt, und die öffentliche Meinung aus langer Erfahrung zu manipulieren weiß, dann passiert das Altbekannte erneut. Die da unten können auch mit noch weniger und irgendwie überleben.
Und wieder geschieht, was in der Geschichte der Menschheit üblich geworden ist: Man bedenkt, man erklärt sich, die geängstigte Seele funkt Entwarnung, und man muß doch erst mal sehen
Ich denke, daß ich damit schlecht leben kann. Das gilt für fast überall. Weil ich mich immer zu den Aufrührern gesellen würde und an der Barrikade nicht vorbei könnte. Aber da stellt sich schon eine andere Frage, die kürzt den Schlaf, breitet sich über die allzu glatte Tischdecke, den immer noch unbeantworteten Brief und läßt alte unbequeme Dialoge wieder aufflackern. Was hat Brecht gesagt, oder war es Aristoteles, ach ja, Goethe: auf freiem Grund mit freiem Volke stehn.
Ich möchte durch meine Straße gehen, wo mir immer noch Leute begegnen, deren Leben dem meinen gleicht und deren Geschichte Ecken und Kanten hat, wie man so sagt. Dann möchte ich gern denken, was mich dieser Herr Orban eigentlich angeht, was soll mir Erdoğan, und was der gewählte Präsident mit der lächerlichen Frisur und dem schäbigen Getue. Es ist doch immer noch mein Berlin. Die Stadt, in der ich geboren wurde, und ich habe eine Urenkelin, eine schöne, mit schwarzen Augen, einem eigenwilligen Herzchenmund und einer erstaunlich nuancenreichen Stimme. Das ist Glück, bis in die Trauer hinein.
Was also geht mich ein Mitbewohner dieser Weltstadt an, ein Mann, den ich nur als Zeitungsbild gesehen habe, und auf der Straße kaum erkennen würde. Er soll seinen Rücktritt erklärt haben. Das geht ja nur, wenn es einen Antritt gegeben hat. Vermutlich gerade eben, nachdem die leichte Erwartung aufkam, daß eine bisher kaum für möglich gehaltene Koalition uns Bürgern vielleicht beistehen würde. Etwa gegen den gnadenlosen Ausverkauf einer zur Spekulation freigegebenen Stadtmitte. Beistand gegen die Machenschaften von Besitzern, die das richtige Geld hatten, um aus dem alten Bestand neuen Besitz zu machen. Das „Entmieten“ wird mit allen Mitteln versucht, meistens gelingt es. Einige sind keine Bürger dieses Staates, keine Steuerzahler, aber mit dem richtigen Geld eben Besitzer, denen die Mieter zum Mißbrauch überlassen werden. Die Methoden sind bekannt, da soll niemand so tun, als habe er keine Ahnung, wie der lautlose Auszug erreicht wird.
Der Mann, der sich nicht genau an jeden Augenblick seines damals jugendlichen Lebens erinnern kann, mag sich Einsicht und Verständnis erhofft haben. Oder einfach die Chance, seine Arbeit zu tun für die Menschen, die ihn gewählt haben; für den Teil der Koalition, dem er angehört. Ich erinnere mich an Entscheidungen des abgewählten OB von Berlin, die mich zu meiner Wahlentscheidung geführt haben. Muß ich einen Fehler korrigieren? Aber niemand hält mir die Wahlurne noch einmal hin. Vielleicht bediene ich sie nie wieder. Da wird ein Mensch bedrängt und abgestraft, der das nicht verdient hat. So hat es der noch immer dienende Präsident einst, aber was heißt schon einst, in seiner Behörde eingeführt, so wird es bis heute gehandhabt.
Das Gesicht des neuen OB wirkt immer wie eben erst gekränkt. Wenn ich bedenke, wie viel ausgeübte oder nicht genutzte Macht in einer Koalition steckt, die zugunsten der geplagten Stadt oder zur Verlängerung ihrer Unruhe ausgeübt werden kann, dann bleibt mir nur eins: zu sagen, daß ich nicht einverstanden bin mit dieser neuen Art des Schafotts. Über den bedrängten Rückzieher weiß ich zu wenig, ich hatte nicht die Gelegenheit, ihn bei der Mitarbeit zu sehen.
Ich würde meinen Freunden vom „RotFuchs“ gern mitteilen, daß neue Entschlüsse des Senats das erbärmliche Ergebnis geändert haben. Daß ich deswegen alles zurücknehme und den Regierenden dieser Stadt mein Vertrauen und meine Solidarität anbiete. Eher glaube ich aber, daß sich jener Fremde eine andere Frisur leistet und seinen Wortschatz reinigt.
Meine Hoffnung, daß sich Koalitionen ihre vielleicht vorschnellen Entscheidungen noch einmal durch den Kopf gehen lassen, ist aus Erfahrung gering. Aber Berlin, mein Berlin, ist eine so wunderbarer Raum, wieder erstanden als Weltstadt, ein Zuhause mit der gewachsenen Fähigkeit, aus dem Leben etwas zu machen: Hier braucht es Farben und Chancen und das ganze pralle Wunder, das Leben heißt.
Ich war unvoreingenommen – jetzt bin ich schmerzhaft mißtrauisch.
Legenden entstehen, wenn sie gebraucht werden. Was ist eigentlich so schlimm daran, wenn ein Junge denkt, er könnte später seinem Vaterland beistehen, statt reich, wichtig und berühmt zu werden? Nichts ist schlimm daran. Außer, er wurde in der DDR geboren.
Der Frieden
Der Frieden wird kein Wunder sein
das eines Tags geschieht
zieht nicht so wie der Frühling ein
den man auf einmal sieht
Der Frieden wird kein Wunder sein
das wundersam entflammt
der Frieden wird die Arbeit sein
die aus uns selber stammt
Der Frieden wird kein Wunder sein
das irgend kommen muß
wie jeden Sommers Tandradein
der erste schöne Kuß
Der Frieden wird kein Wunder sein
wie jede Sommernacht
der Frieden wird die Arbeit sein
die jeder von uns macht
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