Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Ist der letzte Frühling tatsächlich schon ein Jahr her? Ich warne euch, liebe Mitleser. Je älter man wird, desto rascher und eiliger wird die Zeit. „Das Leben brandet, stößt mit Füßen, drängelt sich dazwischen und vor, mahnt zu Unzeiten und mit unfairen Mitteln und gewährt nur selten das Gefühl, man könne sich doch mal auf die Gartenbank setzen.“ („RotFuchs“, April 2016)
Wenn ich vor einem Jahr so empfunden und aufbegehrt habe, welchen Umfang müßten dann Unbehagen und Anmahnung jetzt haben? Was innerhalb eines Jahres an Veränderungen nicht aufzuhalten war, zeigt uns die Grenzen unserer Möglichkeiten zur Einmischung in scheinbare Freiheiten und trotz der Chancen für Wahl und Abwahl von Personen, Politikern mit jubeligem Anfang, oder abgewirtschaftet, am Ende.
Alle Hoffnung auf weltweite friedliche Verträge und Einhaltung von geäußerten Vorsätzen und, wenn auch mit geringem Erfolg, von mühseligen Absprachen, scheinen aufgekündigt. Wofür? Für mindestens konterrevolutionäre, wenn nicht kriminelle Energie hin zur ganzen Macht. Die Zeitungen sind jeden Tag voll davon. Der harte Schwenk nach rechts läßt alles auferstehn, was aus solchem Allmachtsstreben schon geworden ist.
Das Lebendige, für das doch alle Kräfte angeblich alles tun würden, um es besser zu schützen, nein, überhaupt zu schützen, scheint wieder einmal an den Rand gestellt. An welchen? An einen gefährlichen Rand. Felsrand, Rand der Erdkugel? Rand des Lebens, als wäre die Erde aus Porzellan, und jeder Idiot könnte sie zerbrechen. Ach, höre ich, das haben wir früher auch befürchtet. Darf nicht, und wird nicht sein, denn wieder, höre ich auch, regen sich allerorten die helfenden Hände, und Köpfe werden zermartert, alte Vorurteile geprüft, und was neu ist, hat bisher noch weniger Schaden anrichten können als das, was im Geschichtsbuch unter Verbrechen aufgezeichnet ist. Na ja, die neuen Mächtigen sind ja auch noch relativ neu im Amt und im Bestreben, sich auf einer schwarzen Seite im Geschichtsbuch einzutragen. Noch gedenken wir am auffälligsten der gewesenen Untaten. Es gibt ausreichend Gedenktage im Kalender. Sie werden von immer weniger Menschen beachtet – oder sind umstritten.
Das Alte ist vorbei, mit den Alten ins Gleichgewicht gebracht, abgeschafft, mit Einschränkungen oder strafender Markierung versehen. Oder wird als ruhmreich im Auge und im Hirn gehalten. Und wenn schon die Ergebnisse keinen Grund zum Feiern abgeben, so wollen wir doch den Plan, die Absicht, hoch anerkennen. Nicht bei jedem. Aber bei manchem, wo es irgendwie möglich ist, dann auch über Gebühr.
Jüngst war eine kluge Rede zu hören, die es wert ist, aufgehoben zu werden, damit man sich gelegentlich durch Nachlesen erinnern kann. Sie wurde in einer Bundesversammlung anläßlich der Verabschiedung des bisherigen Bundespräsidenten und der Wahl seines Nachfolgers gehalten, von Norbert Lammert. Das ist ein kluger und besonnener, ein gebildeter Mann, den ich zweimal bei seiner Arbeit beobachten durfte. Das war einmal sehr anregend, einmal unangenehm: als er einem Barden, der sich als neuer Ehrenbürger der Hauptstadt respektlos und unangemessen eitel im Forum der Abgeordneten laut machte, zum Dank die Hand schüttelte. Das tat auch die Bundeskanzlerin, aber sei’s drum.
Als Wahlfrau für Sachsen sah ich Herrn Lammert einen Tag lang bei dem Versuch, Ordnung und Regeln gegenüber einer unordentlichen Menge im Raum durchzusetzen. Er war geduldig, taktvoll und nicht ohne hintergründigen Witz. Gegenüber sehr unterschiedlich geprägten Absichten. Von den Anwesenden wußte wahrscheinlich jeder genau, was er unbedingt wollte, und war ziemlich sicher, das mit Gleichgesinnten auch durchzusetzen. Grüne und SPD wollten Gauck als Bundespräsidenten. Wir Linken, und wohl auch andere, wollten das nicht. Mit unserer Hilfe ist er es im ersten Anlauf auch nicht geworden. Es hat erst beim zweiten Mal geklappt. Aber nun ist wieder ein neuer altbekannter Mann gewählt worden, der wird – bleibendes Unbehagen! – auch wieder ins Schloß einziehen. Und auch er wird eine eigenständige, kluge Frau mitbringen, die nicht recht weiß, was sie ab nun in einem alten Schloß soll.
Als der Neue gewählt wurde, saß Joachim Gauck im Saal, na ja, drüber, auf der Empore. Rentner nun, ein alter Mann, klapprig, mit einem vielleicht löchrigen Gedächtnis. Seine Meinung und sein Urteil über das Leben anderer sind außer Kraft gesetzt. Ich könnte mit ihm meinen Frieden machen. Als er von den Anwesenden geehrt wurde, peinlich lange, stand er da, vermutlich ehrlich gerührt und, mag sein, die Leute standen für ihn länger, als er an deren Stelle für einen wie ihn aufgestanden wäre. Er hat nicht gelebt, wie dieser Augenblick uns einreden möchte. Ich kriege das Bild eines alten, verdienstvollen Mannes nicht deutlich hin. Seine Umgänglichkeit, mit der – im Nachhinein so bekämpften – Staatsmacht der DDR. Und dann der ganze Mut und die ganze Wut hinterher, gegen andere, nicht schlechter als er.
Es gelingt mir kein Einverständnis darüber, daß seine alten Privilegien weitergeführt werden. Er, der im Leben vieler anderer Menschen in untermauerter Funktion nach jedem dunklen Pünktchen geforscht hat, und dem es trotz seiner Frömmigkeit möglich war, Menschen an ehernen Urteilen zerbrechen zu sehen. Er scheint mit sich im Reinen.
Was hat er gedacht, damals, als er auf dem Bahnsteig stand, um seine Söhne zu verabschieden, die er ab sofort besuchen durfte. Ein unglaubliches Privileg in der DDR. Eins, von dem ich nicht glauben kann, daß es anders als durch Leistung und Gegenleistung zur Absprache gedieh, zur Ausnahme. Es paßt nicht zu dem Mann, der eine Behörde geleitet hat, um mit Menschen, die in der DDR gelebt und gearbeitet haben, abzurechnen. Wie würde er begründen, daß er für diese Behörde einen Nachfolger durchsetzte, der als Linkenhasser bekannt ist. War er bei jenem Sturm auf die „Stasi“-Bastille Rostock lange genug mit seinen Akten allein? So erzählt man es sich.
Und da sollte ich als Wahlfrau im Bundestag einen Präsidenten wählen, dem ich niemals hätte Freund sein können. Nicht, weil er auch ein fehlbarer Mensch ist, der seine Vergangenheit vielleicht in manchem Moment anders ansieht, als er seine Zukunft sehen möchte. Ob er eins seiner Ämter jemals gesetzwidrig mißbraucht hat, weiß ich nicht. Es hat wohl auch keine strenge Suche nach solchen Anlässen gegeben. Ich habe einmal ein Foto von ihm gesehen, er spielte da wohl als junger Pfarrer mit seinem kleinen Sohn auf einer Wiese. Ein attraktiver Mann, ganz gelöst, lächelnd, liebevoll. Wäre er doch, normal alternd, so geblieben. Dann wüßte ich zwar nicht, daß meine Tochter von einem „Romeo“ geheiratet wurde, der „unbedingt in die Familie wollte“, aber dann hätte sie ihre „Akten“ nicht gelesen, und für ihre Seelenruhe und meine Mutterliebe wäre es besser gewesen. Der hat sich beim Hahnenschrei sowieso verfatzt, und um das Leben mußten wir uns allemal selber kümmern.
Wir haben Gauck damals nicht gewählt. Deswegen geschah Unglaubliches: die Bereitschaft zu demokratischer Fairneß war vergessen, als „wir“ nicht mitspielten. Einen solchen Ausbruch von Wut und nahezu kindlicher Bösartigkeit habe ich während eines offiziellen Aktes noch nie gesehen. Da streckten Politiker die Zunge raus, pfiffen auf den Fingern, und es war, wenn auch nur für Minuten, blanke Wut.
Im zweiten Anlauf hat es dann geklappt.
Wer ihn beerbt, sollte sich ein ehrliches Bild seines Vorgängers vor Augen halten. Vielleicht nur, um es besser zu machen.
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