RotFuchs 233 – Juni 2017

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Das Haus, in dem ich wohne, ist mein Haus. Es war schon mein Haus, als es erdacht, aber noch nicht gebaut war. Die Baustelle wurde von uns so innig beobachtet, als wäre dort unser Kind. Es versprach lebensrettende Unterschiede zur Schönhauser Allee. Unsere alte Wohnung war geräumig. Sie enthielt Möbel aus vergangener Epo­che, große Gemälde, einen Lüster. Die Etagenheizung war kaputt, so mußten Kohlen geschleppt werden, und an modernen Geräten gab es nur einen Kühlschrank und keine funktionierende Waschmaschine. Aber eine Hintertreppe, auf der man heimlich nach oben zur Hintertür gelangen konnte. Romantisch, für die vielen pubertierenden Mädchen, die gerne bei uns aßen, sangen, schrieben oder ihre schwierigen ersten Beziehungen beklagten. Damals wußten wir noch nicht, daß es abdichtende Vierer­fenster gibt.

Vorher waren wir allem Lärm der überforderten Allee ausgesetzt. Der alte Sanitätsrat sagte: „Lärmschäden sind nicht heilbar.“ Eine große Wohnung war in der DDR begehrt, wir tauschten sie gegen eine kleinere, die als Teil der neuen Leipziger Straße gebaut werden sollte. Wir fuhren oft abends zu „unserer“ Baustelle. Immer in der Hoffnung auf Baulärm, auf Fortgang. Oft enttäuscht – da waren die Handwerker gerade zu wichtigeren baulichen Unternehmungen abberufen worden. Aber hier begann eine Lebensarbeit, für die bisher – oder bis dahin – Raum und Ruhe gefehlt hatten. Es gab Wunder zu entdecken. Ich konnte den Himmel und die eine wie die andere Hälfte von Berlin sehen. Wenn man die Fenster schloß, sah man die Autos, aber sie waren nicht zu hören. Es gab einen Trockenraum, den wir acht Familien auf unserer Etage nostal­gisch „Wäschekammer“ nannten. Es gab für jede Wohnung einen Abstellraum, winzig, eben eine Kammer. So nannten wir sie.

Hier ist es gewesen, wo die Enkelin ihr zweites Zuhause hatte. Wo sie am Wochen­ende das Spielzeug stehen oder liegen lassen durfte, je nachdem, ob es eine kleine Stadt war oder eine Versammlung von Stofftieren oder alles, was sie aufgebaut und für sich eingerichtet hatte.

Es war hier, wo wir als Nachbarn einander halfen; wo wir Wichtiges voneinander wußten, uns aber nie auf die Nerven gingen. Spontane Besuche waren nicht üblich. Haben wir uns je versammelt? Nur einmal, als der kleine Sohn unseres Nachbarn mit seiner Kalaschnikow aus Plast unserer Enkelin Laura unbedingt den Kopf wegschie­ßen wollte, und Papa darauf bestand, daß es vernünftig wäre, wenn er den Umgang mit der Waffe beizeiten lernt. Der Junge war vier Jahre alt. Das war ein unangeneh­mer Moment. Aber wir kamen wieder aufeinander zu und blieben Nachbarn. Ein Hausbuch hat es nicht gegeben. Wir haben nicht wissen wollen, wer wen besucht.

Hier haben wir das neue Mobiliar mit altem kostbarem so lange gemischt, bis die Dinge an ihrem Platz standen. Hier haben wir abgegriffene Bücher gesammelt, die nun keiner mehr haben will. Außer auf der Heizungsstrecke unten im Hausflur, einer Art Gabentisch. Was man dort hinlegt, findet seinen Abnehmer. Auch Krimis, die für unsere Augen zu klein gedruckt sind, und wir würden sie sowieso nicht mehr lesen.

Hier gab es für die Kinder noch kein grünes Plätzchen, auf der großen Baustelle noch keinen Platz zum Spielen. Der Fahrstuhl brachte sie hinunter und hinauf, die Freude nutzte sich ab. Mein Mann sagte: „Kommt, wir malen eine Sonne.“ Er holte von oben die Kreide, ich schleppte Getränke und Kekse. Die Leute aus dem Haus gesellten sich dazu, und Spaziergänger blieben stehen und gaben Ratschläge. Die Kinder tobten, lachten, malten, rannten weg und kamen wieder, und wir ließen sie machen. Einer schlug vor, man solle Preise holen. Wir sagten: „Hier kriegt jeder den ersten Preis.“ Und das war richtig. Frank Schöbel hat aus meinem Text ein Lied gemacht, das wurde sehr bekannt – und eine Verfilmung gibt es außerdem.

Hier war es, wo ich etwas ratlos eine Melodie hörte, die was mit Weihnachten zu tun haben sollte. Ich kritzelte auf einen Zettel, was ich über „Weihnachten in Familie“ zu sagen hatte. Diese Schallplatte muß es in der DDR in den meisten Haushalten gege­ben haben.

AMIGA: Komm, wir malen eine Sonne

Hier war es, wo ich Verse notiert habe. Das gibt es. Die Strophen waren an einem Vormit­tag sehr leicht zu schreiben. Aber was wollte ich eigentlich sagen, rühmen oder antasten? Es kam, fast ein Jahr danach, jener Moment, in dem ich mit dem Fuß den Staubsauger aus­schaltete und innerhalb von Minuten die Erkenntnis in einen Vers übersetzte: „Das ist der einfache Frieden / den schätze nicht gering / es ist um den einfachen Frieden / seit Tausenden von Jahren / ein beschwerlich Ding.“ Es war die Zeit der Nachrüstung von Raketen. Es war die Zeit, in der Bundeskanzler Schmidt uns damit eine neue Sicher­heit erklären wollte. Und ich habe ihm nicht geglaubt. So entstand das Volkslied vom einfachen Frieden.

Hier war es, wo sich die Familie immer zu Weihnachten zu ihrem eigenen Friedens­fest traf. Welch ein Vergnügen, mit der liebenswürdigen Enkelin daraus eine Art Ostern zu machen, denn die Geschenke wurden sorgfältig versteckt, damit wir be­stimmen konnten, wann wer sein Hauptgeschenk bekommt. Es war für uns Erwach­sene ziemlich ermüdend und durch die Dauer am Ende langweilig. Die letzten schleppten dann meistens alles, was sie greifen konnten. Aber alle waren satt und konnten einander leiden. Wir blieben zurück und brauchten Kraft, um uns wieder in jene wunderbaren Künstlerpersönlichkeiten zu verwandeln, in deren Gestalt wir doch hineinwachsen wollten.

Hier war es, wo auch wir, durch unsere Art zu leben, einen kleinen Teil dazu beigetra­gen haben, daß aus den Trümmern, dem langen mühsamen Wiederaufbau, ein Kiez entstand.

Hier war es, hier. Hier habe ich zu früh gegangene Freunde zum letzten Mal gesehen. Andere zum ersten Mal zu Gast gehabt.

Hier oben, im 25. Stock, habe ich immer den Checkpoint Charlie gesehen, den Grenz­übergang. Die Potsdamer Straße lief schon vorher wie vor dem Krieg. Vom kleinen Küchenbalkon aus konnte ich den Palast sehen. Auch, als ihm eine häßliche Tüte übergeworfen wurde, unter der er allmählich für immer verschwand. Wohin ich auch blicke, wecke ich Erinnerungen an die Zeit von meinem

16. Lebensjahr bis jetzt, denn ich war Lehrling in der Ruine des Luftfahrtministeriums und viel später eine Art Lehrling als Autorin und Mitwirkende im TiP.

Nun ist meine Urenkelin im Kinderwagen als Gast eingezogen. Das ist Glück.

Daneben aber empfange ich die Nachricht von etwas Ungeheuerlichem, das es in die­sem Haus mit seinen 184 Wohnungen noch nie gegeben hat: Kränkung, Fremdheit, Haß. Da öffnet sich die Fahrstuhltür, und der Knirps neben Papa sagt: „Wir fahren nicht mit Frauen im Fahrstuhl.“ Da wird viel Umdenken nötig sein. Für den Augenblick müssen wir Altmieter, von denen sich manchmal – selten genug – immer noch einige im Fahrstuhl treffen, uns austauschen, und das neben der Freude, daß es wenigstens uns hier wirklich noch gibt.

Wohin aber mit der Nachricht, daß in unser Haus, in unser Zuhause, in unser Stück Heimat Menschen eingezogen sind, die andere mit ihrer Art von Denken über die Welt belästigen. Es werden Exkremente postiert und Wohnungstüren mit rechtem „Gedan­kengut“ plakatiert. Ich dachte nicht, daß mir so etwas noch einmal widerfahren würde: etwas nicht ertragen zu können und ratlos zu sein, was man dagegen tun könnte. Der unerträgliche Gedanke: Wir, wir können doch nichts tun. Das wollen wir sehen.

Eine heile Familie ist ein sehr empfindliches Gebilde. Das haben wir inzwischen ge­lernt. Aber zwischen den Rollkoffern, die kommen und gehen, zwischen all dem verständlichen Getriebe von neu einziehenden Mietern, die erst ein lautes Häuflein bilden und dann doch unterscheidbare Mitbewohner werden, muß ein kleines Feuer­lein, gefüttert aus geschichtlicher Erfahrung und Anstand, bleiben. Damit die ohnehin gerade um sich greifende Kälte uns nicht alle erstarren läßt. Und Angst, mucke ich auf, ist sowieso ein schlechter Ratgeber.