RotFuchs 234 – Juli 2017

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Außer meiner gütigen Großmutter Maari habe ich in meiner Kindheit keine alte Frau gemocht. Sie waren ihr Leben lang arm gewesen – andere kannte ich nicht. Im Alter waren sie noch bedürftiger und hatten gelernt, sich Hoffnungen zu verweigern, die sich ohnehin nie erfüllten. Aus Angst vor Folgen machten sie den Jüngeren alle Genüsse ekelhaft. Wir haben ihre Nähe nicht gesucht, aber wir hätten sie auch nicht gefunden.

Vielleicht hatten sie noch Sehnsüchte. Aber ihre Gefühle und ihr Denken waren geprägt durch lebenslänglichen Mangel. Geld macht nicht glücklich, aber zu wenig Geld macht unglücklich, die Zärtlichkeiten karg und sogar die Worte arm. Wie ein zusätzliches Familienmitglied lebte in ihrer Mitte das Unglück. Es hieß Alkohol. Die Männer ließen diesen Mörder jeglicher Verläßlichkeit in die Familie hinein. An den Alkohol fielen fast alle Freude und jegliches Vertrauen.

Diese alten Frauen hörten am liebsten den verunglückten Seelen zu, die gaben ihren Meinungen recht. Das Leben war mies, und die Menschen sind schlecht. Diese armen alten Frauen meiner Kindheit habe ich eher als schadenfroh und hämisch in der Erin­nerung. Was ihnen verschlossen blieb, gaben sie als unerreichbar aus. Sie sagten den Töchterlichen gern ein böses Schicksal voraus. Für meine Ohren bestimmt, sagte eine: „Dem Armen seine Sau oder dem Reichen seine Hure, da kann man sich doch ausrechnen, was sich mehr lohnt.“ Die Männer stießen ihre Frauen immer wieder in die ungewollte Schwangerschaft und also in gefährliche Abtreibungen, was damals „Rettung“ genannt wurde.

Diese alten unfrohen Mädchen sind meist ihr Leben lang ohne Glück geblieben.

Denen waren wir damals anvertraut. Solchen Frauen, deren einziger süßer Trost das Kino mit seinen unerreichbaren Männern und begehrten schönen Damen war. Aber auch diese harten prügelnden Frauen wurden älter. Das Selbstmitleid machte sie weicher, und die Erinnerungen tauchten alles Geschehen in ein anderes Licht. Fast so, als hätten sie uns geliebt. Sie gaben unseren Männern Bilder aus unserer Kind­heit, als wäre jene Zeit ein einziger Lachanfall gewesen. Lauter lustige Anekdoten, eine wünschenswerter als die andere. Aber nein, Mama. Du hast nie zu mir gesagt, daß du mich lieb hast. Deine Kinder wurden erwachsen, waren draußen im Leben, und dort machten sie Erfahrungen, die ihr Leben veränderten. Es gab Frauen, die hatten es nicht leichter gehabt als ihr, aber sie haben das Unglück, das auf sie fiel, nicht als Härte weitergegeben. Sie hatten andere Helden als eure Filmschauspieler, waren vom schmalen Pfad des Vorgegebenen abgewichen und haben sich ein großes Leben gemacht. Ihre Erfahrungen waren, sind gefragt. Ich habe mit euch leben müssen, Mama, und habe dann, ohne euch, ältere Frauen gefunden, mit denen ich lachen, arbeiten und mich verbunden fühlen konnte. Wenn sie von ihrem Leben erzählen, dann stockt mir manchmal beim Zuhören der Atem, und für einen Augenblick erstirbt beinahe der Wunsch, mit ihnen gelebt zu haben.

Foto: Horst Sturm

Manche von ihnen hätte ich so gern früher gekannt. Aber unsere Wege waren zu unterschiedlich. Wir konnten uns nicht früh genug treffen. Das hindert mich nicht, sie als unvergeßlich in meiner Erinnerung und Zuneigung zu hüten. Ich möchte Oda Schottmöller gekannt haben, und meine Sympathie und Bewunderung für Eva Klemperer ist so groß, daß ich die raren Zitate ihrer Sätze aus Victors Tagebüchern herausgeschrieben habe. Ich muß lachen, wenn sie bei seinem Anfall von Selbst­mitleid sagt: „Damit war ich mit zwanzig durch.“ Klingt zurechtweisend, aber sie sagt das in noch friedlichen Zeiten, als sein dekadenter Wunsch eher unpassend war. Später, in der Bedrohung und der täglichen Nähe des Todes, hat sich gezeigt, daß sich bei ihr Sensibilität und Kraft verbinden konnten.

Ich lese die Aufzeichnungen der Frauen, die ich gern gekannt hätte – oder gekannt habe, aber die Zeiten haben nicht gereicht für die gewünschte Dauer einer Freund­schaft. Ich will mich ein Leben lang an das Gelesene erinnern. Da heißen Bücher „Leben, wo gestorben wird“ und „Haus der schweren Tore“. Die Autorin war Eva Lippold.

Als ich sie traf, lagen hinter ihr nur schwer vorstellbare Zeiten der Angst, der langen Gefährdung ihres Lebens, Zeiten in Zuchthäusern und schwere Arbeit als Teil der Strafe, die ihr vom Volksgerichtshof auferlegt wurde. Weil sie im Widerstand gegen Hitler eine jener Frauen war, die mehr auf sich genommen haben, als wir uns auch nur vorstellen wollen. Fast eine Generation älter als ich, waren wir Kolleginnen. Aber was uns mehr verbunden hat, war jener Teil ihres schweren Weges, an dem sich der meine nicht messen durfte. Ich wußte das. Und sie hat es einmal gesagt, einmal: „Du weißt es nicht. Du warst nicht dabei.“ Aber sie hat mir das nicht vorgeworfen. Eva Lippold war eine der Frauen, die auch mit dem Alter nicht unschön werden. Ihre Stimme klang nicht rauher oder unfreundlicher, als ich sie mir für ihre Jugend vorstellen konnte. Fast unglaublich, daß man mit ihr lachen, Pläne haben und sie sogar verwirklichen konnte. Sei es einen Wettbewerb für junge Dichter zu organisieren, sei es im Verband der Schriftsteller, wo man sich gegen eine engherzige Auflage von oben auflehnen konnte. Ich erinnere mich, wie wir einmal von Herzen miteinander gelacht haben. Da sollte Henryk Keisch eine Parteistrafe bekommen, weil in sein Haus eingebrochen worden war, und der Dieb hatte aus einer Kassette das Parteibuch geklaut. Die Parteileitung warf ihm vor, daß er das Parteibuch nicht unauffindbar gehütet habe, nämlich an seinem Körper. Dafür sollte er eine Parteirüge bekommen. Ich weiß es noch, weil es wunderbar war. Die anwesenden Mitglieder der Partei brachen in ein so herzliches Lachen aus, und Keisch sagte: „Mein Dieb ist ohne Strafe davongekom­men.“ Da hat Eva Lippold so herzlich gelacht, wie sie sicher auch weinen konnte. Um Hermann, den Geliebten und Genossen, der hingerichtet worden war.

Wenn ich mich, bei diesem ganz normalen Leben, das ich nun bis in mein bemerkens­wertes Alter hinein gelebt habe, von Herzen bedanken möchte, dann bei all den Frauen, die sich mir anvertrauten, sich Rat holten, und die mir geholfen haben. Und die auf vielfältige Art in meinem Leben geblieben sind. Ihr Beispiel hat mir nicht erlaubt, bei Schwierigkeiten einen manchmal doch möglichen kleinen Umweg durch die Feigheit zu nehmen. Oder aufzugeben, wo noch eine Chance bestand.

Die alten Frauen meiner Kindheit konnten nicht verhindern, daß wir Kinder wollten und sie immer wissen ließen, daß sie geliebt und nicht allein sind. Das hat sich als ein goldener Glücksfaden durch mein Leben gezogen, ob ich die jeweilige Göre selber geboren hatte oder nicht.

Nun gibt es eine kleine Person mit einem unglaublichen Blick direkt in meine Seele. Ihr habe ich zu sagen: Ich bin die fast Hundertjährige, die durchs Fenster reingeklet­tert ist, um drinnen ja nichts zu verpassen. Sie versteht mich.

Ich sage doch: Wir hatten Glück. Wir alten Frauen von heute. Wir hatten eine unglaub­liche Chance. Und wo es ging, haben wir sie genutzt.

Das Alter hat mich umarmt
die Stirn konnte nicht widerstehn
es hat sich meiner Hände erbarmt
auf den Lippen die Spur ist zu sehn

Das Alter hat mich sanft berührt
hat die Träume ins „möglich“ geführt
nur das Herz, nie ein Herr, nie ein Knecht
das fügt sich nicht und hat recht

Altsein ist anders als Älterwerden
wo soll das Herz denn hin
mit der Asche aus so viel erloschenen Herden
nehmt mir die Sterne erst aus der Tasche
wenn ich gestorben bin