Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Über Glück und Unglück weiß ich als Hausfrau, Mutter und Mitlebende im Weltprozeß mit all seinen – befürchteten oder überraschenden – Katastrophen durch Wetter, persönliches Schicksal und die Folgen von sogenannter Politik doch einiges, wenn auch nicht genug, wie sich immer wieder zeigt. Es gibt auch glaubwürdige Anzeichen von Gelassenheit und ruhigerer Handhabung im eigenen Leben. Aber davon soll hier nicht die Rede sein, im Gegenteil:
Das Jahr hätte gut beginnen können, aber es gelang mir im Januar, durch einen Sturz drei wichtige Knochen meines rechten Mittelfußes zu brechen. Im Haushalt, einem der bevorzugten Orte, um aus dem Stand in den Ruhestand zu gelangen. Kalender und Hirn waren voller Termine und Pläne, aber es half nichts. Die Prophezeiung des knurrigen, aber kundigen Arztes wies auf Zeitverluste hin, von akuten Schmerzen und bleibenden Schäden zu schweigen. Es war ein Unglück, das mir Glück brachte. Ich hatte es nicht erwartet.
Früher, bei uns zu Hause, wie wir noch immer gelegentlich sagen, da wäre meine Bettkante besetzt gewesen, man hätte mir Mühen aus der Hand gerissen, sich um mich gekümmert, mich getröstet und verwöhnt.
Aber heute? Heute rennt jeder nur noch dem eigenen Gutgehen hinterher, man hat keine Zeit mehr für fremdes Unglück, und ehrlich „... man kann in einem solchen Fall sowieso nicht wirklich helfen.“
Das alles scheint den Verhältnissen und den neuen sozialen Ängsten geschuldet, ist auch wahrnehmbar. Ich habe es nun anders erlebt. Es gibt uns noch, ich habe die Art wiedergefunden, es war ein ganz privates, für meine Arbeit aber glückseliges Ereignis. Was hieß da Fuß? Meine Seele erlebte in unerwartetem Umfang freundschaftliche Solidarität und Hilfe jeder Art. Es war ein eher mürrischer Scherz von mir, um Suppe statt Blumen zu bitten.
Wenn ich jetzt erkläre, daß ich keinen Tag dieser zehn Wochen missen möchte, dann ist es die Wahrheit. Ja, auch, weil bei uns Pelmeni, Rouladen, Kartoffelsuppe und Käsetorte abgegeben wurden, auch Obstsalat und Gulasch, Hühnersuppe und andere Köstlichkeiten. Das war tatkräftige Hilfe. Andere brachten mir ihre eben ausgelesenen oder noch nicht ausgepackten Lieblingsbücher, denn ich litt ja nun nicht an Zeitmangel. Nur eins war darunter, das habe ich in den Papierkorb befördert, also nicht auf die Konsole in unserem Hausflur gelegt, wo jedes Buch schnell verschwindet. Warum? Nun, mir sollten die Vorurteile zwischen Wessis und Ossis von der Seele geräumt werden. Das wäre ja auch schön gewesen. Nur stellte sich leider bei der Lektüre heraus, daß unsere „Vorurteile“ zumeist von unserer Weltfremdheit herrühren, während die armen Wessis (nicht alle) nur noch mehr Geduld aufbringen müssen.
Ich konnte am 8. März mit viel Hilfe auf die Bühne humpeln, statt 400 Gäste zu enttäuschen. Es war ein glücklicher Tag, er hat uns zusammen den alltäglich nötigen Mut gestärkt, denn wir begingen ihn in seinem gemeinten Sinn, so wie wir uns den Tag der Befreiung nicht nehmen lassen.
Ich konnte in diesem unverhofften Urlaub in aller Ruhe die Zeitungen lesen. Sonst nicht? Nein, sonst nicht.
Gewärmt von der neuen und Brechtschen Überzeugung, daß der Mensch dem Menschen ein Helfer sein kann, es sein könnte, empfing ich die geistigen Faustschläge der Informationen ungeschützt. Die Gesinnung hinter den Nachrichten ist allemal nackt und eindeutig. Es braucht keine Beweise, um ein Schurke genannt oder als Schurkenland gebrandmarkt zu werden. Griechenland wird von Kapitalisten erpreßt, Schuld und Schulden vergangener Regierungen helfen dabei.
Ich war noch jung und politisch naiv, als ich ein Hörspiel über Manolis Glezos schrieb. Er hatte die verhaßte Besatzerfahne der Nazis heruntergeholt. Ich habe die Mauthausenkantate von Theodorakis in unsere Sprache gebracht – und einmal hatte ich die Ehre, beim Friedensmarsch von Marathon nach Athen dreißig Kilometer in der ersten Reihe zu laufen, Arm in Arm mit dem Sohn des Arztes, der erschossen worden war, weil er diesen Marsch neu belebt hat, und neben einem ehemaligen Auschwitz-Häftling. Mehr als hunderttausend Griechen, unter ihnen Maria, die einen Genossen geheiratet hat, um Kontakte zu den Gefangenen auf der Insel herzustellen – sie sind noch zusammen und haben zwei Kinder.
Was mich damals tief bewegte: Neben uns fuhren langsam teure Autos vorbei, hielten an, fuhren weiter. Man erzählte mir, es seien Ärzte, Rechtsanwälte, Kaufleute, die den Zug begleiten, um Ermüdete aufzunehmen. Und Konrad war bei uns, der Pastor, er hatte in Athen studiert und für Griechenland eine Medaille bei einem Europa-Cup geholt. Er ging mit uns DDR-Leuten in die Gasse der Juweliere und Kaufleute, wo die Dächer ganz niedrig waren. Nach einem bestimmten Klopfzeichen wurde die Tür aufgerissen, und Männer lagen sich in den Armen. Bei dem jungen Genossen Bürgermeister, der die Universität gegen die Panzer der Junta verteidigt hatte, erfuhr ich von Konrads eigentlichem Verdienst: Als die Rechten an die Macht kamen, hatte er die Namenslisten der Genossen unter seiner Kleidung nach Hamburg gebracht und aufbewahrt, bis er sie feierlich wieder übergeben konnte. Ich muß daran denken, gerade jetzt: Wir gingen beim Friedensmarsch an einer amerikanischen Kaserne vorbei, der Posten stand mit gespreizten Beinen davor, die Hände im Rücken. Ich fragte die zierliche Amerikanerin hinter mir, ob er wohl bewaffnet wäre. Das war naiv.
Und dann kamen aus dem Lautsprecherwagen, zu Ehren unserer Delegation, die griechischen Lieder in deutscher Sprache, meine Nachdichtungen. In Athen wartete auf einer Bühne im Freien, in einem Thronsessel, die berühmteste griechische Dichterin auf uns, die von dreißig Kilometern Weg ermüdet waren. Was sie sagte, wurde nicht übersetzt. Die Griechen wollten ihr zuhören, sie ließen sich auch von der Gegendemonstration nicht unterbrechen, und wir erfuhren später, was sie gesagt hat.
Haltungen haben ihren Augenblick der Entstehung. Man muß ein Schurke sein, um von einer solchen Barrikade wieder herunterzusteigen.
Ich fühle oft Trauer um einen Verlust, neben dem der Gewinn blasser erscheint. Auch, wenn ich das nicht will und mich trotz langsam schwindender Kraft einbringe, wo Heilung oder Gewinn vorsichtig blinken.
Das Herz beharrt aber auch auf seinen Stempeln.
Den Tag der Befreiung vom deutschen Faschismus erlebte ich, vier Tage vor meinem vierzehnten Geburtstag, im Innviertel, in unserem kleinen Dorf. Wir standen im Freien und reichten uns gegenseitig ein Fernrohr, durch das man die Straße von der Bahnstation Gurten nach Ried im Innkreis sehen konnte. Ungenau zu erkennen war ein langer, langsam sich bewegender Zug aus Menschen in gestreiften „Schlafanzügen“ – so nannte es neben mir ein Soldat, der alle Kennzeichnungen von seiner Landseruniform entfernt hatte, ehe er Stunden später in amerikanische Gefangenschaft lief. „Die sind aus Mauthausen“, sagte der Landser. Mehr sagte niemand, und später: „Man hat ja nicht mehr gewußt.“ Das stimmt nicht, ich weiß es.
Peter Edel meinte einmal, er wäre wahrscheinlich in diesem Zug gewesen. Da er in Mauthausen befreit wurde, könnte es sein. Das macht nichts besser.
An einem 9. Mai wurde meine Tochter geboren. Damals war der Frieden sechs Jahre alt. Er soll uns, sie und unser Kind von ihr überleben.
Soll der Mensch den Menschen nie mehr
nach der Schlacht betrauern
muß auf dieser Erde eben
Frieden wie das eigne Leben
kostbar sein und dauern …
Ich kann inzwischen beinahe mühelos wieder gehen. Jedenfalls bestehe ich darauf.
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