Vor 20 Jahren endete der Abzug der russischen Westgruppe
Gorbatschows und Jelzins
Geschenk für Kohl
Am 31. August jährte sich zum 20. Mal jener Tag, an dem der Abzug der Westgruppe der russischen Streitkräfte aus Deutschland sein Ende fand. Mitte Juli 1990 war der Auflösungsprozeß der DDR so weit vorangeschritten, daß Gorbatschow beim Treffen im Kaukasus dem Bonner Kanzler Kohl nicht nur den Weg für deren Anschluß an die BRD freigab, sondern auch dem Verbleib des um ein Drittel vergrößerten Deutschlands in der NATO zustimmte. Der prinzipien- und würdelose Verkauf der DDR wurde damit zur politischen Realität. Als besonders verwerflich muß die Tatsache betrachtet werden, daß der Renegat im Kreml den einst treuesten Verbündeten der UdSSR der ungehemmten Rache der Sieger überließ.
Ein wichtiger Aspekt der Verhandlungen zwischen Gorbatschow und Kohl war die Rückführung der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte (WGS). Diese sollte innerhalb von drei bis vier Jahren bei finanzieller Unterstützung durch die BRD erfolgen.
Obwohl der „Vertrag über die abschließende Regelung in bezug auf Deutschland“ (Zwei-plus-vier-Vertrag) erst am 12. September 1990 in Moskau unterzeichnet wurde, befahl der „Minister für Abrüstung und Verteidigung“, Rainer Eppelmann, der NVA bereits am 25. Juli, ein Stabsorgan mit der Bezeichnung „Abteilung Zentralaufgaben/Zusammenwirken mit der Westgruppe der sowjetischen Streitkräfte“ (WGS) zu formieren. Die Rechtsgrundlage für die Zusammenarbeit war bis zur Eingliederung des Territoriums der DDR in die BRD der Vertrag vom 20. September 1955 über die Beziehungen zwischen der DDR und der UdSSR sowie die Offizielle Vereinbarung über Fragen, die mit dem zeitweiligen Aufenthalt sowjetischer Truppen auf dem Territorium der DDR verbunden waren. Beim Oberkommando der Westgruppe in Wünsdorf wurde ebenfalls ein Sonderstab für Fragen des Abzugs eingerichtet.
Die Zusammenarbeit zwischen den Mitarbeitern der beiden Stabsorgane verlief in der für uns NVA-Offiziere gewohnt freundlichen und sachlichen Atmosphäre. Der Abzug sollte planmäßig, in Ruhe und Ordnung sowie für die Angehörigen der WGS in Würde verlaufen. Unser Abschiedsmotiv lautete: „Macht’s gut, sowjetische Waffenbrüder, und vergeßt nicht: Ihr hattet in der DDR gute und zuverlässige deutsche Freunde.“ Wir hegten die Hoffnung, daß unsere freundschaftlichen Beziehungen zur Sowjetunion helfen könnten, auch zu Rußland gedeihliche Verbindungen zu entwickeln.
Die Verlegung der 7. und der 12. Panzerdivision der WGS aus der DDR in die Sowjetunion war ein einseitiger Abrüstungsschritt. Die Rückführung beider Divisionen begann am 25. August 1990.
Die Vorbereitung der Transportsicherstellung für die WGS war die größte Herausforderung, die das Militärtransportwesen der NVA je zu bewältigen hatte. Zu verlegen waren die 1. Gardepanzerarmee Dresden, die 2. Gardepanzerarmee Fürstenberg, die 3. Stoßarmee Magdeburg, die 8. Gardearmee Nohra (Weimar), die 20. Gardearmee Eberswalde und die 16. Luftarmee Wünsdorf sowie der Stab der Westgruppe mit unmittelbar unterstellten Verbänden und Truppenteilen. Hinzu kamen etwa 120 selbständige Brigaden, Regimenter und Bataillone. Im Ganzen handelte es sich um 550 000 Militärpersonen und deren Familienangehörige.
Eine konkrete Planung der Transportsicherstellung war ohne Beteiligung der WGS nicht realisierbar. Am 3. Oktober 1990 ging die Befehlsgewalt in Sachen NVA an den Bundesminister der Verteidigung der BRD über. Im Unterschied zur Bundeswehr hatte sie nie einen Krieg geführt und war auch nicht daran beteiligt. Sie wird deshalb früher oder später ihren verdienten Platz in der deutschen Militärgeschichte finden.
Schon tags darauf nahm ein Stabsorgan der Bundeswehr unter der Be-zeichnung „Deutsches Verbindungskommando zu den Sowjetischen Streitkräften in Deutschland“ in den Räumlichkeiten unserer Abteilung Zentralaufgaben/Zusammenwirken seine Tätigkeit auf. Die NVA-Abteilung wurde kurzerhand in dieses Verbindungskommando integriert, wobei alle Führungspositionen erwartungsgemäß von „alten“ Bundeswehroffizieren besetzt wurden. Allerdings hatten etwa 70 % des Personalbestandes ihre Wurzeln in der NVA. Die Bundeswehrführung hatte erkannt, daß der begonnene Abzug der sowjetischen Truppen von den Militärtransportorganen der NVA, der WGS und dem Bereich spezielle Transport- und Bauaufgaben des Ministeriums für Verkehrswesen der DDR hervorragend organisiert und geführt worden war. Das hohe Tempo entsprach voll und ganz den Wünschen der Bundesregierung. Man wollte „die Russen“ so schnell wie möglich aus Deutschland weghaben, da man sich trotz der Verträge nicht sicher war, welche politischen Entwicklungen sich in Moskau vollziehen könnten.
Das Stationierungsabkommen mit der DDR hatte am 3. Oktober 1990 seine Gültigkeit verloren. Neue Grundlage wurde nun der „Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der UdSSR über die Bedingungen des befristeten Aufenthalts und die Modalitäten des planmäßigen Abzugs der sowjetischen Truppen aus dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland“.
Die neue Führung mit ihrem Chef, Generalmajor Foertsch, war sehr bemüht, keine Zeit zu verlieren.
Im Gegensatz zur verschärften Fortsetzung des ideologischen Krieges gegen alles, was mit der DDR in Verbindung zu bringen war, verhielt man sich zu uns ehemaligen NVA-Angehörigen korrekt. Schon am 5. Oktober mußte ich über Organisation, Planung und Stand des Abzugs der WGS Meldung erstatten.
Foertsch war klug genug, das sich reibungslos bewegende Gesamtsystem der Transportsicherstellung unverändert zu lassen. Es kam jedoch zum Konflikt. Die Ursache dafür war, daß sich der Oberkommandierende der WGS, Armeegeneral Snetkow, weigerte, ihn zu empfangen. Von sowjetischer Seite erfuhr ich, daß Snetkow den Namen Foertsch nicht grundlos mit der Leningrader Blockade durch die faschistische Wehrmacht während des Zweiten Weltkrieges in Verbindung brachte. 900 Tage lang war die Stadt an der Newa den massiven Angriffen und dem direkten Beschuß der faschistischen Wehrmacht ausgesetzt. Dabei kamen mehr als eine Million Leningrader, vor allem Frauen, Kinder und Alte, durch die Kampfhandlungen, Hunger, Kälte und Entbehrungen ums Leben. Auch Armeegeneral Snetkow hatte in der Stadt Angehörige verloren. Der Vater „unseres“ Generalmajors – Friedrich Foertsch – aber wurde am 1. Juni 1942 zum 1. Generalstabsoffizier der 18. Armee und ab Dezember 1943 zum Chef ihres Generalstabs ernannt. Von Hitler war dieser die Aufgabe zugewiesen worden, Leningrad einzunehmen. Nach dem Scheitern dieses Planes erging der Befehl, die Stadt systematisch zu zerstören.
Foertsch sen. wurde noch am 25. Januar 1945 zum Chef des Generalstabs der Heeresgruppe Kurland ernannt, mit dem Ritterkreuz dekoriert und am 1. März 1945 zum Generalleutnant befördert. Bei Kriegsende geriet er in sowjetische Gefangenschaft und wurde wegen Kriegsverbrechen zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Im Ergebnis der Adenauer-Reise nach Moskau übergab die UdSSR ihn 1955 als nichtamnestierten Kriegsverbrecher den Bonner Behörden, die ihn sofort als Generalmajor in die Bundeswehr eingliederten. 1961 wurde er deren Generalinspekteur. Armeegeneral Snetkow aber löste man am 12. Dezember 1990 stillschweigend ab.
In der Planungsperiode für den weiteren Abzug der Westgruppe der Truppen (WGT), wie die WGS jetzt hieß, hielt ich mich zweimal wöchentlich in Wünsdorf auf. Das mußte wohl das Unbehagen des Stabschefs, Oberst i. G. Freiherr von Grote, ausgelöst haben. Jedenfalls schickte man mir einen Hauptmann des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) als Überwacher mit. Das war für mich eine neue Erfahrung. Der Herr Oberst konnte sich wohl nicht vorstellen, welche Mühe es bereitete, die Verlegung von zwei Armeen in einem Jahr mit Transportentfernungen von weit über 1000 Kilometern zu planen. Ab 1. Januar 1991 war Schluß damit. Die BRD nahm nun ihre hoheitlichen Rechte gegenüber der WGT wahr. Mit anderen Worten: Die russische Seite mußte fortan jegliche Verlegungen bei der Transportleitstelle OST der Bundeswehr anmelden.
Der Endtermin des Abzugs wurde vom 31.12.1994 auf den 31.8. vorverlegt. Der Nutzen für die WGT war gleich Null. Die Unterbringungsprobleme der zurückkehrenden Truppen wurden dadurch sogar noch verschärft. Am 10. Jahrestag ihres Abzugs schrieb Viktor Litowkin von „RIA Nowosti“, es habe sich um einen „Rückzug auf die grüne Wiese“ gehandelt. Generaloberst Burlakow, letzter Oberbefehlshaber der Westgruppe, vertritt die Meinung, der Truppenabzug habe eher einer Flucht geglichen. Schuld daran seien Gorbatschow und Jelzin, der seinem Freund Helmut Kohl gefällig sein wollte. Noch drei Jahre nach der Rückkehr hausten ganze Truppenteile samt Familien mit Kindern in Zelten und Containern.
Der überstürzte Abzug aus Deutschland und die dubiosen Entscheidungen von Politikern und Militärs in Moskau, aber auch das zeitweilige Machtvakuum erwiesen sich für die BRD als Hauptgewinn. Ihr war der Weg geöffnet worden, im Interesse des deutschen Kapitals wieder zu einer europäischen Großmacht aufzusteigen. Für Rußland hatte die Räumung dieser strategischen Position verheerende Auswirkungen, besonders im Hinblick auf seinen Platz und seine Rolle in Europa und der Welt. Abgezogen wurden allein 4209 Panzer, 8208 gepanzerte Kampffahrzeuge, 3682 Artilleriesysteme, 691 Flugzeuge, 683 Hubschrauber und 677 032 Tonnen Munition. Die offiziellen Verabschiedungsfeierlichkeiten begannen am 31. August 1994 mit einer Militärparade in Berlin und setzten sich mit einem Staatsakt im Schauspielhaus, Zeremonien am Treptower Ehrenmal und Empfängen fort. Die Feierlichkeiten wurden indes nicht zu einer gemeinsamen Angelegenheit aller Siegermächte der Antihitlerkoalition. Die Russen wollten es zwar, fanden aber bei ihren einstigen Verbündeten kein Gehör.
Besonders bedauerlich ist die Tatsache, daß sich die Regierung der BRD nicht dafür eingesetzt hat, daß das Museum der WGT mit dem Diorama „Sturm auf Berlin“ in Wünsdorf verbleiben konnte. Das wäre eine Geste gegenüber Rußland gewesen und hätte für die Deutschen einen Ort der Erinnerung, der Mahnung, der Erziehung und des Gedenkens an die Millionen Opfer geschaffen. Einst hatte die Regierung der DDR der WGS den Rundbau für das Diorama zum Geschenk gemacht.
Mit der Einholung der Fahne der Russischen Föderation in Wünsdorf endete am 9. September 1994 die 49jährige Geschichte der Westgruppe der sowjetisch-russischen Streitkräfte in Deutschland.
In seiner politischen Bedeutung war der Truppenabzug ein welthistorisches Ereignis, in dessen Folge sich der Machtbereich der NATO beträchtlich nach Osten verschob. Die Russische Föderation, deren Vorgängerstaat die Hauptlast bei der Erringung des Sieges über den deutschen Faschismus getragen hatte, verlor mit dem Untergang der Sowjetunion an weltpolitischem Einfluß. Heute gilt sie wieder als Großmacht. Doch für Moskau ist es schmerzlich, bedenklich und gefährlich, daß sich das imperialistische Paktsystem bis an die russischen Westgrenzen ausgedehnt hat. Angesichts der 27 Millionen Toten des Großen Vaterländischen Krieges gegen Hitlerdeutschland muß man die Ängste des Volkes verstehen.
Die Bundesrepublik Deutschland hingegen stieg zu einer europäischen Führungsmacht ersten Ranges auf. Obwohl sie inzwischen keine Grenzen mit gegnerischen Staaten mehr hat, wurde ein neues Feindbild geschaffen. Es ist das alte. Am verhängnisvollsten aber ist die Tatsache, daß Bundesregierungen unterschiedlicher politischer Farbe nach dem Abzug der WGT den Krieg wieder zu einem Mittel deutscher Außenpolitik gemacht haben. Eine gefährliche und fatale Fehlentwicklung.
Nachricht 1474 von 2043
- « Anfang
- Zurück
- ...
- Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
- Großer Friedensschlußverkauf –
alles muß raus! - Weckruf aus Göttingen
- Gorbatschows und Jelzins
Geschenk für Kohl - Leserbriefe
- Der Bär und die Taube
- Was Jürgen Todenhöfer
Herrn Gauck empfahl - ...
- Vorwärts
- Ende »