RotFuchs 200 – September 2014

„Goworit Moskwa“: Lewitans Frontberichte

Bernd Gutte

Als in der Nacht vom 3. zum 4. Juli 1941, also wenige Tage nach dem Überfall Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, eine Diversantengruppe der SS festgenommen wurde, ging man von geplanten Anschlägen auf militärische Objekte aus. Die Faschisten steckten in Uniformen von Kommandeuren der Roten Armee und waren mit entsprechenden Papieren ausgestattet. Bei ihrer Vernehmung stellte sich allerdings heraus, daß die Terroristen den Befehl hatten, u. a. Anschläge auf Radio Moskau zu verüben. Vor allem ging es dabei um die Ermordung des Sprechers J. B.

Wer verbarg sich hinter dieser Abkürzung? Es handelte sich keineswegs um ein Geheimnis, da jeder Bürger der UdSSR wußte, daß es sich um Juri Borissowitsch Lewitan handelte. Damals nannte man ihn die „Stimme der Sowjetunion“. Als „Stimme der Sieger des Zweiten Weltkriegs“ ist er in die Geschichte eingegangen. Auch vielen der Nachgeborenen dürfte sein „Wnimanje! Goworit Moskwa!“ – „Achtung! Hier spricht Moskau!“ übermittelt worden sein.

Eigentlich wollte Juri Lewitan Schauspieler werden. Von Wladimir aus, wo Judka Berkowitsch Lewitan am 19. September 1914 geboren wurde, machte er sich Anfang der 30er Jahre mit einem Schulfreund in das etwa 200 Kilometer entfernte Moskau auf, um an einer Schauspielschule vorzusprechen. Der äußere Eindruck gefiel, aber der Dialekt war nicht gerade bühnentauglich. Noch weniger konnte er damit beim Rundfunk ankommen, wo er sich kurz danach bewarb. Mit eiserner Disziplin eignete sich Lewitan das „Moskauer Hochrussisch“ an, erschien erneut und durfte probehalber allnächtlich wichtige Artikel zentraler Blätter verlesen. Sicher hat er damals die Fähigkeit erworben, deutlich und klar zu sprechen, jede Silbe einzeln zu betonen.

Daß Lewitan sämtliche Reden Stalins vortragen durfte, ist keine Legende. Vor allem aber verlas er 1417 Mal den täglichen Frontbericht im sowjetischen Rundfunk. Er begann damit am 22. Juni 1941, als die Sowjetbürger die Schreckensbotschaft vernehmen mußten, die deutschen Faschisten hätten die Grenze zur UdSSR überschritten. Schlimme Nachrichten hatte Lewitan in diesen fast vier Jahren zu verkünden, doch seine Stimme strahlte dennoch Festigkeit und Siegeszuversicht aus. Unzählige Briefe von der Front erreichten damals Radio Moskau. Einer sei zitiert: „Genosse Sprecher, schonen Sie Ihre Stimme, wir sind stolz auf Sie! Die Rote Armee ist unschlagbar, und das ganze Volk verehrt Sie.“

Natürlich erkannte auch das Oberkommando der Roten Armee, welche Kraft von dieser Stimme ausging und sich auf andere übertrug. Marschall Rokossowski sagte, Lewitan sei mindestens so viel wert wie eine ganze Division. So wurde er abgeschirmt. Nur die engsten Vertrauten kannten seine Identität. Solche Sorge hatte gute Gründe: Hitler sah in ihm den „Reichsfeind Nr. 1“, Goebbels setzte eine Prämie von einer Viertelmillion Reichsmark für denjenigen aus, der ihn lebend nach Berlin brächte. Dort sollte er dann die Meldung vom deutschen Endsieg über die Sowjetunion verlesen. Da dieser aber in immer weitere Ferne rückte, befahl Goebbels: „Das Moskauer Radio muß zum Schweigen gebracht werden!“ Doch es kam anders. Radio Moskau verstummte nicht, und Lewitan verlas die Meldung vom Sieg der Roten Armee.

1961 vernahm die Welt noch einmal diese unvergleichbare Stimme: Am 12. April um 10.02 Uhr Moskauer Zeit verkündete Lewitan: Das Raumschiff Wostok „mit einem Menschen an Bord ist in die Umlaufbahn der Erde gebracht worden. Der Kosmonaut ist ein Bürger der UdSSR, Fliegermajor Juri Alexejewitsch Gagarin.“

Am 4. August 1983 ist J. B. Lewitan verstorben. Er wurde auf dem Moskauer Nowodewitschi-Friedhof beigesetzt, wo neben vielen anderen Großen auch Gogol, Majakowski, Schostakowitsch und Gagarin ruhen.