RotFuchs 195 – April 2014

Grândola, vila morena …

Klaus Steiniger

In der Nacht des 25. April 1974 übertrug der Lissabonner Sender Radio Clube Português ein von der Zensur des faschistischen Caetano-Regimes auf den Index gesetztes Lied José Afonsos: Grândola, vila morena. Trotz strikten Verbots war diese Komposition zuvor schon bei den Landarbeitern des südportugiesischen Alentejo in aller Munde. Gefeiert wurde mit ihr das widerständische Städtchen Grândola.

Doch an jenem Tag vor nunmehr 40 Jahren hatte die Ode einen ganz besonderen Klang: Sie galt als Signal für die zur Erhebung gegen die faschistische Diktatur bereiten Teile der kolonialkriegsmüden Armee. Noch in der Stunde des Aufstands eilten ihnen die von einer Handvoll Kommunisten der PCP inspirierten Arbeiter- und Volksmassen zu Hilfe. Plötzlich steckten in unzähligen Gewehrläufen von Soldaten und Matrosen rote Nelken. Sie gaben der Revolution ihren Namen.

Am 25. April 1974 wurde der 1926 von Salazar errichteten und unter Caetano aufrechterhaltenen faschistischen Diktatur ein Ende bereitet. Daß im Verlauf eines revolutionären Prozesses unter Führung der bis 1976 von 3000 auf 200 000 Mitglieder anwachsenden Portugiesischen Kommunistischen Partei Álvaro Cunhals eine tiefgreifende soziale Umwälzung stattfinden würde, erwarteten in jener frühen Phase des Geschehens wohl nicht einmal die größten Optimisten.

Als ich Anfang Mai 1974 ohne Visum auf Lissabons Flughafen Portela eintraf und dank der Hilfe eines Majors aus der Bewegung der Streitkräfte die Sperre passieren durfte, wußte ich noch nicht, daß mir fünf ereignisreiche und wechselvolle Jahre von Revolution und Konterrevolution bevorstehen würden.

Eines meiner ersten Erkundungsziele war Grândola. Wie überall im Alentejo konnte man auch dort wichtige Auskünfte in Kneipen erhalten. Diese waren von Beginn an unter den verschiedenen Parteien aufgeteilt. In Grândola hatte ich Glück, als ich – ohne jegliche Ortskenntnis – den „Picapau“ (Klopfspecht) auswählte. Er war schon damals das Stammlokal der Kommunisten. Dort traf ich auf Pedro – einen von fünf zur PCP gehörenden Brüdern der Familie Costa, die bereits unter dem Faschismus das Netz der Partei geknüpft hatten. In der Stunde erster Umarmungen konnte ich nicht ahnen, daß mir die Frau des Uhrmachers und Parteisekretärs Pedro Costa nur drei Jahre später als Grândolas kommunistische Bürgermeisterin die in heimischen Kork gebettete Erinnerungsmedaille dieser Stadt – meine höchste Auszeichnung – überreichen würde.

Im Frühsommer 1974 fuhr ich wieder gen Süden. Es gab einen freudigen Anlaß, der mich nach Grândola aufbrechen ließ. Dort fand Anfang Juni die erste legale Kundgebung der örtlichen PCP statt. Beim Eintreffen stellte ich fest, daß der Marktplatz jetzt den Namen von Catarina Eufémia trug. Diese proletarische Märtyrerin – eine junge Landarbeiterin aus Baleizão und Mutter dreier Kleinkinder – war kurz vor einer erneuten Niederkunft im Mai 1954 als Streikführerin durch einen faschistischen Gendarmen erschossen worden. Auf Grândolas Pflaster standen die Worte eines bekannten Alentejo-Liedes: „Wer sah, wie Catarina starb, wird ihren Mördern nicht verzeihen.“

Viele hundert Grândolaer strömten an jenem Tag zum Ort des Meetings. Die meisten von ihnen waren bestenfalls Halbanalphabeten, deren sicherer Klasseninstinkt sie jedoch manchem gebildetem Bourgeois deutlich überlegen erscheinen ließ. Der alte Landarzt, der Salazars KZ Tarrafal auf den Capverden durchlitten hatte, sprach als erster. Seine warmherzigen Worte rührten die Menge zu Tränen. Als zum Abschluß aus dem Lautsprecherwagen die Internationale ertönte, hoben etliche Teilnehmer instinktiv die geballte Faust, auch wenn sie Text und Melodie nie zuvor vernommen hatten.

Im Hochsommer besuchte ich Grândola erneut. Abermals gab es einen triftigen Grund: die Eröffnung des örtlichen Arbeitszentrums der PCP. Das Gebäude hatte den Faschisten als Gefängnis gedient. Viele Standhafte waren dort von ihnen gequält worden. So genoß ich den Augenblick, als Polizisten vor der Fahne mit Hammer und Sichel salutierten.

Die portugiesische Revolution erwies sich als der bisher weitreichendste antikapitalistische Vorstoß im Westen Europas. In ihrem Verlauf verstaatlichte die Regierung des lauteren Generals Vasco Gonçalves im Frühjahr 1975 sämtliche inländischen Konzerne, Banken und Versicherungen, während das Agrarproletariat im Alentejo und in Teilen des Ribatejo 1,2 Millionen Hektar Gutsherrenland besetzte, um 550 ausbeutungsfreien Kollektivgütern und Kooperativen den Weg zu bahnen.

Diese grandiosen Errungenschaften der demokratischen Revolution ließen sich auf Dauer weder behaupten noch ausweiten, weil die Grundfrage jeder Revolution – die Frage der politischen Macht – nicht zugunsten der in Richtung Sozialismus Drängenden entschieden werden konnte. Die Revolutionäre besaßen zwar Verbündete an Schalthebeln der Staatsgewalt, vermochten diese aber insgesamt nicht zu erobern. Während die Landarbeiter des Südens und die Proletarier in den Industriegürteln um Lissabon, Setúbal und Porto zur Revolution bereit waren, blieben weite Teile Mittelportugals, des Nordens und des Landesinneren in den Händen klerikal-faschistischer Kräfte. Diese konnten sich auf Franco-Spanien als Hinterland und die 6. Flotte der U.S. Navy vor den Küsten des NATO-Mitbegründerstaates ebenso verlassen wie auf Ströme von Geld und Armeen von Diversanten aus westlichen Ländern. Eine besonders üble Rolle spielte Willy Brandt als damaliger Chef der Sozialistischen Internationale. Er machte die 1973 auf dem Gelände der Friedrich-Ebert-Stiftung bei Bonn in der Retorte der SPD gezeugte Sozialistische Partei von Mário Soares zur Sturmspitze gegen das Portugal des April. Die USA waren noch unverfrorener: Sie schickten ihren künftigen CIA-Vizedirektor Frank Carlucci 1975 als Botschafter nach Lissabon.

Auch wenn der kühne Vorstoß in Portugal nicht zum Ziel führte, überdauerten zwei wichtige Errungenschaften den Sieg der Konterrevolution: die definitive Aufhebung der Kolonialherrschaft in Ländern Afrikas und Asiens sowie die bürgerlich-demokratische Ordnung im einstigen Mutterland. Zu deren Kriterien gehört die Legalität der in den Massen fest verankerten PCP.

Das Europa der Monopole hat auf das Geschehen am Tejo mit dem forcierten Auf- und Ausbau der EU sowie mit der Formierung einer eigenen Eingreiftruppe geantwortet. Denn die Angst der Bourgeoisie vor neuen antikapitalistischen Ausbruchsversuchen auf dem europäischen Kontinent ist trotz des sie derzeit begünstigenden Kräfteverhältnisses nicht gewichen. Weder Griechen noch Portugiesen lassen sich – wie ganze Serien von Generalstreiks bewiesen – durch Merkel oder Brüssel zu Sklaven machen. Die Tatsache, daß in diesen beiden Staaten weiterhin intakte Abteilungen der marxistisch-leninistischen Weltbewegung operieren, die ihr ideologisches Pulver trockengehalten haben, dürfte dabei besonders ins Gewicht fallen.

Im Alentejo ist das einst signalgebende und zu einer internationalen Hymne gewordene Lied José Afonsos nicht verstummt. Grândola bleibt rot. Bei den Kommunalwahlen im Herbst 2013 wurde die vorübergehend an die Sozialisten gefallene symbolträchtige Stadt von der PCP zurückerobert.