Griff in die falsche Kiste
Irgendwann in den 80er Jahren schepperte es im Erzgebirge gewaltig, worauf Presse und Funk der DDR einen Gebirgsschlag vermeldeten. Auf die Frage, was das denn sei, antwortete ein pfiffiger Journalist, es handle sich vermutlich um „ein Erdbeben in den Farben der DDR“. Die ironische Bemerkung bezog sich auf eine von der SED-Führung in Umlauf gebrachte und nicht überall Verständnis auslösende Formulierung, in der plötzlich vom „Sozialismus in den Farben der DDR“ die Rede war. Mancher interpretierte die Wortwahl als einen Griff in die falsche Kiste. Dabei gibt es keinen Zweifel, daß jede sozialistische Gesellschaft in der konkret-historischen Situation ihres Bestehens von den jeweiligen nationalen und internationalen Bedingungen ausgehen muß, also spezifische Züge trägt.
So war z. B. das Neue Ökonomische System, das die DDR in den 60er Jahren unter Ulbricht erproben wollte, nicht deckungsgleich mit dem Sozialismus-Modell, das sich in der UdSSR herausgebildet hatte. Die DDR wollte damit individuelle, kollektive und gesamtgesellschaftliche Bedürfnisse und Erfordernisse besser in Einklang bringen, um stärkere Triebkräfte für die wirtschaftliche Entwicklung freisetzen zu können. Die Tatsache, daß sie das nicht zu erreichen vermochte, hing sowohl mit ihrem Eingebundensein in die sowjetische Konzeption, die im RGW bestimmend war, als auch mit eigenen Ungereimtheiten in der Wirtschaftspolitik zusammen. Was die DDR indes ohne Abstriche anstrebte, war die immer vollkommenere Gestaltung des Sozialismus als einer ausbeutungsfreien und gerechten Gesellschaft. Die aber ist ohne die Macht der Arbeiterklasse, deren Bündnis mit den Bauern und anderen werktätigen Schichten ebensowenig möglich wie ohne konsequente Aufhebung des Privateigentums der Kapitalisten an den wichtigsten Produktionsmitteln.
Im Hinblick auf gegenwärtige Entwicklungen in der Volksrepublik China reicht mein Wissen derzeit nicht aus, um mir ein endgültiges Urteil zu erlauben. Dennoch halte ich es für richtig, daß der RF in den ersten beiden Ausgaben dieses Jahres Artikel veröffentlicht hat, in denen nicht einfach der „Sozialismus chinesischer Prägung“ propagiert wurde, den manche noch für eine Variante der NÖP halten, sondern eine differenziertere Einschätzung versucht worden ist.
Als Lenin seinerzeit die Grundzüge der als NÖP bekanntgewordenen „Neuen Ökonomischen Politik“ herausarbeitete, die nicht zuletzt darauf gerichtet war, das Profitstreben der Kapitalisten in einer bestimmten Frist für den sozialistischen Aufbau Sowjetrußlands zu nutzen, betonte er, erst damit sei die Frage „Wer – wen?“ zugunsten des Proletariats zu entscheiden. Zwei Aspekte dieser Politik bestimmten aus seiner Sicht deren Wesen: den Kleinproduzenten die Freiheit des Handels zuzugestehen und im Hinblick auf das große Kapital seitens der Sowjetmacht Prinzipien anzuwenden, die man in der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre als „Staatskapitalismus“ bezeichnet.
Doch schon im März 1922, als die Hungersnot noch grassierte und sich Sowjetrußland im Schraubstock der Weltfinanzkrise befand, erklärte Lenin, „der Rückzug in dem Sinne, daß wir dem Kapital Zugeständnisse machen“, sei beendet. „Wir haben unsere Kräfte und die Kräfte der Kapitalisten gegeneinander abgewogen …, Verträge mit russischen und ausländischen Kapitalisten abgeschlossen, und wir sagen …, unseren ökonomischen Rückzug können wir jetzt einstellen. Es ist genug. Weiter zurück werden wir nicht gehen …“ (LW 33/206).
Ich wiederhole meine Eingangsthese: Keine konkret-historische Situation in einem bestimmten Land ist einer anderen völlig gleich. So muß jede kommunistische Partei der spezifischen Lage Rechnung tragen. Wir dürfen und wollen uns nicht in die Rolle von Lehrmeistern begeben, zumal auch wir an der Niederlage des europäischen Sozialismus in den später 80er und frühen 90er Jahren nicht schuldlos gewesen sind. Doch der „Sozialismus chinesischer Prägung“ dürfte ebensowenig der Weisheit letzter Schluß sein wie das „Erdbeben in den Farben der DDR“.
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