Über Licht und Schatten im deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat
Gründe für Stolz und Schmerz
In seinem Beitrag „Eigene Defizite nicht bagatellisieren!“ warf Siegfried Schubert schon im RF 186 berechtigterweise Fragen auf, die wohl allen mit der DDR Verbundenen auf den Nägeln brennen. Welche Verantwortung für deren Untergang tragen wir selbst? Dennoch können wir trotz des Ausgangs der Dinge stolz darauf sein, daß es den ersten Arbeiter-und-Bauern-Staat in der deutschen Geschichte überhaupt gegeben hat. Nur wenn man davon ausgeht, daß es in historisch überschaubarer Zeit Möglichkeiten für einen neuen Anlauf gibt, macht es Sinn, sich mit Licht und Schatten der eigenen Vergangenheit gründlich zu befassen.
Ohne Zweifel gilt es nicht nur Defizite zu analysieren, sondern auch das Entstehen, Werden, Wachsen und Vergehen der DDR vor dem Hintergrund der konkreten inneren und äußeren Bedingungen allseitig zu betrachten. Wenn es darum geht, heutigen wie künftigen Mitstreitern Erkenntnisse über die DDR zu vermitteln, sollte man zuerst die Frage beantworten, wie es denn überhaupt möglich war, eine solche Gesellschaft zu errichten: ohne Arbeitslosigkeit und Zukunftsängste, frei von sozialer Würdelosigkeit, Fremdenhaß und Kriegsgelüsten.
In den Programmen der maßgeblichen BRD-Parteien sind solche Errungenschaften nicht einmal angedacht: Arbeitslosigkeit 0 %, Obdachlosigkeit 0 %, Beseitigung des tiefen Grabens zwischen arm und reich, echte Frauenbefreiung, soziale Sicherheit für alle. Das waren für uns Selbstverständlichkeiten, obwohl es auch eine Vielzahl noch ungelöster Probleme gab, die mehrheitlich hätten bewältigt werden können.
Bei all dem ist zu bedenken, daß die Erbauer der DDR und jene, die 40 Jahre lang für die Bewahrung des Errungenen sorgten, den überprüfbaren Nachweis der Möglichkeit einer Alternative zum Kapitalismus erbrachten. Vor allem diese Tatsache muß künftigen Generationen vermittelt werden. Als Wesensmerkmale einer ausbeutungsfreien Gesellschaft sollten auch in Zukunft das gesellschaftliche Eigentum an Produktionsmitteln sowie die planmäßige Gestaltung aller wirtschaftlichen und sozialen Prozesse unter der Leitung einer politischen Kraft mit entsprechender Zielsetzung gelten.
Es reicht dabei nicht aus, unter Weiterbestehen kapitalistischer Grundstrukturen durch bloßen Politikwechsel echte Veränderungen bewirken zu wollen, obwohl um Reformen zur Verbesserung der Lebensverhältnisse arbeitender Menschen ständig gekämpft werden muß.
Es ist bedrückend, wenn selbst unter politischen Kräften, die für sich in Anspruch nehmen, Linke zu sein, mit Blick auf die DDR fast nur abfällige, beleidigende Etiketten verteilt werden. Eine solche Pauschalisierung trägt dem Wesen des tatsächlichen Lebens in der DDR in keiner Weise Rechnung.
Nun zu meiner Sicht auf die Niederlage des Sozialismus in der DDR. Ich glaube, daß drei Faktoren unser Schicksal besiegelt haben: ein übermächtiger Feind, ein in die Hände von Verrätern geratenes ursprüngliches Freundesland und die Unfähigkeit von Teilen der eigenen Führung. Ohne von unseren Fehlern und Defiziten ablenken zu wollen, muß man klar erkennen, daß die DDR selbst dann, wenn sie makellos gewesen wäre, wohl kaum Überlebenschancen gehabt hätte. Das beziehe ich nicht nur auf das unmittelbare Ende – das Fallenlassen durch die Clique Gorbatschows –, sondern auch auf fast ihre gesamte Existenzdauer. Seitens der BRD und deren NATO-Verbündeter wurde ohne Unterlaß alles unternommen, die DDR zu untergraben und zu beseitigen. Egon Bahr soll einmal auf die Frage nach dem Feindbild der BRD geantwortet haben: Die DDR mußte weg! Dazu war der BRD jedes Mittel recht, militärische Maßnahmen inbegriffen.
Es steht außer Zweifel, daß es die DDR ohne die Befreiung durch die Rote Armee sowie die Unterstützung auf den verschiedensten Gebieten nie gegeben hätte. Zugleich ist zu bemerken, daß dieses unerläßliche Bündnis erst für die SBZ, dann für die DDR von Beginn an mit erheblichen Hypotheken belastet war. Beide erbrachten etwa 98 % aller deutschen Reparationsleistungen an die UdSSR – eine zwingende Konsequenz des von Hitlerdeutschland entfachten Krieges. Die Sowjetunion konnte im Unterschied zu den Westalliierten angesichts der unermeßlichen Kriegsschäden nicht auf Reparationen verzichten. Dadurch und infolge der Marshallplan-Injektionen für den Westen war die DDR de facto von Beginn an ökonomisch derart ins Hintertreffen geraten, daß dieser Abstand niemals mehr aufgeholt werden konnte.
Massive Erschwernisse ergaben sich für die DDR-Wirtschaft vor allem auch aus der Systemkonfrontation. Die Ausgaben der DDR für die Beschaffung von Waffen und Ausrüstungen für die Truppe sowie den Unterhalt der Nationalen Volksarmee brachten sie an den Rand ihrer Leistungskraft. Die Bürde des Kalten Krieges, der damit tatsächlich „kalt“ blieb, drückte die DDR weitaus mehr als ihren imperialistischen Widerpart.
Die DDR war als relativ kleines, rohstoffarmes und dennoch industriell hochentwickeltes Land extrem außenwirtschaftsabhängig. Das betraf nicht nur Rohstoffe, sondern auch moderne Technologien wie die Mikroelektronik. Eine angedachte Zusammenarbeit mit der UdSSR konnte indes nicht verwirklicht werden, obwohl man dort über alle wissenschaftlichen, technischen und materiellen Voraussetzungen zur Produktion modernster Entwicklungen verfügte, sie aber fast ausschließlich für militärische Zwecke und die Raumfahrtprogramme einsetzte. So verfolgte die DDR ihr außerordentlich ehrgeiziges, die eigenen Möglichkeiten überforderndes Mikroelektronikprogramm.
Mit ihren etwa 16 Millionen Einwohnern und ohne nennenswerte eigene Rohstoffe – von Braunkohle abgesehen – bewegte sie sich stets unterhalb jener „kritischen Masse“, die eine autarke Existenz ermöglicht hätte. So wäre sie auch ohne den finalen Todesstoß durch Gorbatschows Verrat wohl kaum dazu in der Lage gewesen, sich auf Dauer zu behaupten.
Hinzu kam der Widerspruch, daß SED und DDR nicht nur verbal, sondern auch praktisch alles nur Mögliche unternahmen, um die grundlegenden Bedürfnisse der Bevölkerung immer besser befriedigen zu können, während andererseits große Teile der dadurch Begünstigten sie am Ende unter massivem Einfluß der Westmedien „abwählten“. Man kann die Sache auch umdrehen. Jene Parteien in der BRD, die für Arbeitslosigkeit, Krisen und Kriege die politische Verantwortung tragen, werden stets wiedergewählt, wobei sich lediglich die Anteile innerhalb dieser „Einheitspartei“ verschieben.
Wie aber kann man es sich erklären, daß so viele Bürger der DDR den Rücken zuwandten, obwohl sie nachweislich eine menschenwürdigere und gerechtere Gesellschaft verkörperte?
Ein Hauptgrund besteht wohl darin, daß für sehr viele Menschen der Wert der DDR-Errungenschaften durch Gewöhnung für völlig normal gehalten wurde, während zugleich Fragen wie die lückenhafte Versorgung mit bestimmten Lebensmitteln und technischen Konsumgütern sowie die marode Bausubstanz, besonders aber die stark eingeschränkte Reisefreiheit negativ ins Gewicht fielen. Wenn DDR-Bürger Vergleiche mit den Lebensverhältnissen in der BRD anstellten, bezogen sich diese nicht auf Bildung, Gesundheit und Jobsicherheit, sondern auf Mallorca, Mercedes und überquellende Regale. Das waren auch die eigentlichen „Fluchtgründe“ für die meisten jener, welche die DDR verließen oder am Ende abwählten. Andere Argumente wie angeblich fehlende Freiheit, ein Mangel an Demokratie oder „Stasi-Bespitzelung“ wurden eher vorgeschoben und vom Westen eingeredet, als wirklich empfunden.
Natürlich ist die Frage legitim, ob die erwähnten Defizite zwangsläufig hätten auftreten müssen oder ob sie in Teilen vermeidbar gewesen wären.
Offensichtlich wurden die Möglichkeiten, welche die Planwirtschaft bietet, bei weitem nicht ausgeschöpft, wobei man sie als ein Kernstück des sozialistischen Systems nicht in Frage stellen sollte. Selbst unter den bestehenden Einschränkungen bewies das System der DDR seine Vorzüge gegenüber der ungebremsten kapitalistischen Marktwirtschaft. Doch die planwirtschaftliche Praxis war leider oftmals weit eher eine zentralistische Kommandowirtschaft als die gemeinschaftliche demokratische Erarbeitung aufeinander abgestimmter ökonomischer Entscheidungen, an denen alle Kombinate, Betriebe, gesellschaftlichen Gremien und vor allem die Werktätigen selbst unmittelbar teilnehmen konnten. Die SED-Führung tat kaum etwas, solche Methoden der Leitung, Planung und Organisation der Volkswirtschaft zu entwickeln, welche die notwendige Effektivität bewirkt hätten.
Die unter Walter Ulbricht begonnenen Arbeiten an einem Neuen Ökonomischen System wurden nach dem Wechsel an der Parteispitze jäh abgebrochen. Seitdem herrschte mehr oder weniger Stillstand, während die Probleme blieben.
Der Plan wurde so von oben nach unten zu einem Druckinstrument für das „Herauspressen“ höherer Leistungen. Das entscheidende Kriterium für deren Anerkennung war die Planerfüllung. Die Interessen der Betriebe und Kombinate konzentrierten sich daher auf die Ausarbeitung möglichst „weicher“ Pläne und das Zurückhalten von Reserven statt auf deren Erschließung.
Wertkategorien wie Preis, Gewinn und Kredit wurden mehr als formale Rechengrößen betrachtet, denn als Maßstäbe für hohe Effektivität. Das Leistungsprinzip, dessen Notwendigkeit in Worten stets beteuert wurde, kam leider kaum zum Tragen. Löhne und Gehälter wurden mehr oder weniger nach Tabellen, nicht aber nach echter Leistung und Verantwortung gezahlt. Generaldirektoren oft riesiger Kombinate „verdienten“ in der Regel nicht einmal 4000 DDR-Mark im Monat – Beträge, über die mancher Handwerker in der DDR nur müde lächelte. Prämien wurden nicht selten sogar auch dann ausgezahlt, wenn der Plan gar nicht erfüllt worden war.
Die vielbeschworene „Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik“ wurde dadurch gravierend verletzt, daß soziale Maßnahmen – so richtig und notwendig sie waren – losgelöst von den tatsächlichen wirtschaftlichen Möglichkeiten durchgesetzt wurden. So entstand durch die zweifellos gut Gemeinte „Politik stabiler Verbraucherpreise“ und extrem niedriger Mieten ein Kaufkraftüberhang, der häufig eine nicht zu befriedigende Nachfrage in bezug auf Konsumgüter und Dienstleistungen hervorrief. Ergebnis dessen war dann das von den Westmedien ständig strapazierte Gerede von einer „DDR-Mangelwirtschaft“.
Diese und viele andere Probleme waren der Führung durchaus bekannt. Sie wurden von staatlichen Organen, gesellschaftlichen Einrichtungen sowie in zahlreichen Eingaben der Bürger klar benannt, durch die Führungsspitzen der Partei aber ignoriert. Selbst als mit dem Auftreten Gorbatschows Mitte der 80er Jahre eine gewisse – auf Ahnungslosigkeit beruhende – Aufbruchstimmung bei vielen DDR-Bürgern zu spüren war, verharrte die Führung in Reglosigkeit. Man kann nur ahnen, daß insbesondere Erich Honecker vom Gefühl der Ohnmacht, Überforderung und Verzweiflung erdrückt wurde. Das fand nicht zuletzt in seiner Entscheidung Ausdruck, den 12. Parteitag der SED, der planmäßig erst 1991 stattfinden sollte, auf 1990 vorzuverlegen.
Es sind aber sicher nicht nur die lückenhafte Versorgungsdecke und die fehlende Reisefreiheit für die „Abwahl“ unseres Systems ausschlaggebend gewesen. Antipathien nicht weniger Menschen gegen die Partei breiteten sich im Laufe der Zeit aus. Die verantwortlichen Genossen wurden als unfähig und unwillig empfunden, sich abzeichnende Konfliktsituationen rechtzeitig erkennen, geschweige denn angehen zu können und zu wollen. Dazu trugen die oftmals penetrante Manier der politisch-ideologischen „Erziehungsarbeit“, die im Widerspruch zur empfundenen Wirklichkeit stehende Selbstbeweihräucherung und Lobhudelei sowie der als Entmündigung der Bürger empfundene Wahlmodus bei. Das Vertuschen offenkundiger Probleme rief Verärgerung hervor.
Es träfe wohl kaum den Kern der Sache, wollte man all das lediglich als Ausdruck von Dummheit oder Altersblindheit abtun. Auch ganz konkrete Umstände haben zu solchen „Unsinnigkeiten“ beigetragen. So war die Furcht davor, daß bei kritischen oder gar selbstkritischen Äußerungen aus den eigenen Reihen der politische und soziale Gegner sofort versuchen würde, diese lautstark über die Medien für seine eigene Anti-DDR-Propaganda zu nutzen, sehr verbreitet. Immer mehr gelang es den Westsendern, deren Informationsquellen nicht nur aus kritischen Äußerungen von DDR-Bürgern Zufluß erhielten, in den Augen vieler weit glaubwürdiger zu erscheinen als der Selbstzufriedenheitskult der eigenen Medien. Die jahrelange Schönfärberei trug keine Früchte.
Ein anderes Thema war der Umgang mit „Dissidenten“, also Andersdenkenden, unter denen sich nicht wenige Gegner der DDR befanden. Dieser Begriff wird im heutigen Sprachgebrauch völlig einseitig benutzt, indem sie immer die „Guten“ sind, die von den „Bösen“ aus SED und Stasi verfolgt, bespitzelt und sogar eingesperrt wurden. Tatsächlich verbargen sich unter dem Deckmantel der Dissidenz aber auch etliche Gruppierungen, die mehr oder weniger offen gegen das Gesellschaftssystem der DDR operierten. Daß die imperialistischen Dienste dabei eine besondere Aktie hatten, muß wohl nicht näher erläutert werden. So war der Einsatz adäquater Mittel und Methoden in der Auseinandersetzung mit echten Feinden des Sozialismus nicht nur legitim, sondern auch eine existentielle Schutzmaßnahme. Immerhin ist in der DDR niemand auf die Idee gekommen, das Land mit Soldaten und Panzern am Hindukusch „zu verteidigen“, was man inzwischen in der BRD als absolute Normalität betrachtet.
Leider haben führende Kräfte der seinerzeitigen PDS – ich denke dabei vor allem an die Professoren Brie und Klein – eine absolut negative Haltung zur DDR eingenommen und ihr sozialistisches System verdammt. Sie alle waren in der DDR Mitglieder der SED, viele von ihnen geachtete, ja sogar geehrte Persönlichkeiten!
Was wäre passiert, wenn der 12. Parteitag 1990 tatsächlich stattgefunden hätte und sie dort zu Nachfolgern von Honecker, Hager, Sindermann und anderen gewählt worden wären? Ich bin davon überzeugt, daß die DDR und der Sozialismus schon nach kurzer Zeit den Bach hinuntergegangen wären. So hatte es durchaus seine guten Gründe, daß die damaligen Oberen auch das eigene politische Umfeld im Auge behielten.
Als Kommunisten und Sozialisten müssen wir uns stets der Tatsache bewußt sein, daß der Kapitalismus eine Art „Perpetuum mobile“ ist. Er vermag sich immer wieder selbst zu regenerieren. Bricht er irgendwo zusammen, wie z. B. nach den beiden Weltkriegen, entsteht in aller Regel – sehen wir von den Ergebnissen der Oktoberrevolution ab – wieder Kapitalismus. Die Befreiung durch die Rote Armee hat die Deutschen im Osten vor diesem Schicksal bewahrt. Zerbricht aber der Sozialismus, dann entsteht ebenfalls Kapitalismus. Das bedeutet, daß Sozialismus täglich neu erobert werden muß, daß ein ständiger Kampf darum zu führen ist, auftretende Probleme wie neue Entwicklungschancen zu erkennen und unter Einbeziehung möglichst vieler Menschen notwendige Entscheidungen konsequent durchzusetzen. Es müßte eine solche Atmosphäre herrschen, in der jeder sich ständig aufgefordert fühlt zu kritisieren, Vorschläge zu unterbreiten und eigene Initiativen zu entwickeln. Der größte Fehler war die Losung „Nur keine Fehlerdiskussion!“
Das bedeutet andererseits aber auch, nicht zuzulassen, daß sich in der Gesellschaft Kräfte etablieren und entfalten können, die ein Zurückdrängen in vorsozialistische Verhältnisse anstreben.
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