Grund zu Jubelfeiern oder
Zwang zur Gewissensprüfung?
Seit Monaten erleben wir die Lobpreisungen für die Ereignisse, die vor fünfundzwanzig Jahren zur „Wiedervereinigung“ geführt haben. Selbst die Sitzung der Volkskammer vom 23./24. August 1990 wurde als Klassentreffen wiederholt. In einer Art Zirkusveranstaltung hatten die meisten der „Laienkünstler“ Hochverrat an der Verfassung der DDR begangen und das Völkerrecht gebrochen, indem sie ihren Staat, seine Bürger und deren schwer erarbeiteten Reichtum dem BRD-Imperialismus in den Rachen warfen. Es dürfte keinen Abgeordneten gegeben haben, der der den „Vertrag“ gelesen hatte und dessen Folgen einschätzen konnte. Das Treffen fand am „authentischen Ort“ statt, den es gar nicht mehr gibt. Lothar de Maizière hatte die Stirn, die damalige Volkskammer als „das fleißigste Parlament der deutschen Geschichte“ zu bezeichnen. In einem halben Jahr hatte es 164 Gesetze und drei Staatsverträge diskutiert und beschlossen.
Nach Kohl ist entscheidend, „was hinten herauskommt“. Was ist beim Treuhandgesetz herausgekommen, wenn nicht die Enteignung der DDR-Bürger durch eine Räuberbande? Am gleichen Wochenende, an dem sich die Volkskammerabgeordneten von 1990 bejubelten, erschien im „Spiegel“ (35/2015, S. 120 f.) ein Essay Dirk Kurbjuweits „Warum Deutschland ein neues Nationalkonzept braucht“. Das „Nationalkonzept“, das de Maizière und Co. gerade gefeiert hatten, scheint also nicht mehr zu taugen. Was bietet Kurbjuweit im „Spiegel“ an? Er behauptet: Die alte deutsche Frage stellt sich neu. Zwar sagt er nicht, was er unter „deutscher Frage“ versteht, die neu zu stellen sei, aber er weiß die Antwort: „Eine neue Idee wird gebraucht, eine gute Nationalidee. Warum nicht diese, die aus Südafrika stammt: Rainbow Nation, Regenbogennation?“
Die Frage ist: Warum soll Deutschland eine „Regenbogennation“ werden? Der Autor findet Gründe in der aktuellen politischen Situation, im Flüchtlingsstrom und in der Gefahr des Grexit. Sein Grundsatz: „Wer in Not ist, verdient Hilfe. Alles andere wäre unanständig.“ Bei solchem Bekenntnis erübrigt sich die Frage nach den Ursachen der Not als „unanständig“. Der Autor versichert dem Leser: „Rainbow Nation ist ein herzliches und strategisches Projekt. Der Spielraum für die Politik wird größer … Rainbow Nation heißt, daß egal ist, wer ein echter Deutscher ist oder nicht.“ So also wird die alte „deutsche Frage“ auf neue Weise gelöst. Angesichts einer solch abstrusen Idee dürfte es zweckmäßig sein, zu prüfen, worin die „deutsche (nationale) Frage“ bisher bestanden hat. Das war in Ost und West unterschiedlich. Lord Weidenfeld/Karl Rudolf Körte widmeten im „Handwörterbuch zur deutschen Einheit“, das von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wurde, dem Begriff „deutsche Frage“ viereinhalb Seiten (S. 127 f.): „Die deutsche Frage entzieht sich einer einfachen Definition. Sie ist ein komplexes Problembündel.“ Zu dem „Bündel“ gehört die „Frage nach der territorialen und nationalen Organisation der Deutschen in der Mitte Europas“. Die Grenzen und die Größe Deutschlands sind von besonderer Bedeutung. Anders wäre die Bonner These von der „offenen deutschen Frage“, solange die DDR existierte und die „Ostgebiete“ nicht „befreit“ waren, nicht zu erklären. Weidenfeld/Körte fragen nicht nach den Eigentums- und Machtverhältnissen. In der DDR war die „deutsche“ Frage mit der „sozialen Frage“, dem Gesellschaftssystem, verknüpft. Im „Sachwörterbuch zur deutschen Geschichte“ (S. 408 f.) waren der „deutschen Frage“ sieben Seiten gewidmet. Es wurde abgehandelt, welche politischen und sozialen Kräfte bestimmend wirken. Die „deutsche Frage“ wurde zur Frage des Überlebens, als sich zeigte, daß die „Wiedervereinigung“ nur noch im gemeinsamen atomaren Massengrab (Egon Bahr) denkbar war. Willy Brandt faßte das in die Worte: „Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts.“ Erich Honecker und Helmut Kohl formulierten wortgleich: „Von deutschem Boden darf kein neuer Krieg ausgehen.“ Der befürchtete Bruderkrieg trat 1989/90 nicht ein, aber das „wiedervereinte“ Deutschland hält es nun für „normal“, weltweit an Kriegen teilzunehmen. Damit ist die Dialektik von Frieden und deutscher Einheit erneut sichtbar.
Bismarck schuf mit dem Deutschen Reich zugleich die Macht, die zum Hauptschuldigen am Ausbruch des ersten Weltkrieges wurde. Die Quittung war Versailles. Das Großdeutschland Hitlers brach den zweiten Weltkrieg vom Zaun. Jalta, Potsdam und Nürnberg waren die Konsequenz.
Die Zeit der Existenz der beiden deutschen Staaten war die längste Friedensperiode in der jüngsten deutschen Geschichte. Sie ist beendet.
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