Über Defizite bei der Handhabung der
politischen Ökonomie des Sozialismus
Haben wir alles richtig gemacht?
Ein Aspekt der Kritik an der DDR-Wirtschaftspraxis war die Angreifbarkeit ihrer Preispolitik. Prof. Christa Luft drückte das so aus: „Der Preis als grundlegender Faktor des Wirtschaftsgeschehens widerspiegelte nicht den Wert, also den Aufwand an lebendiger und vergegenständlichter Arbeit.“ (RF-Extra März 2014)
Die Theorie besagte – auf einen Nenner gebracht –, daß der Preis Geldausdruck des Wertes sei, welcher wiederum vom gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwand zur Herstellung eines Produkts bestimmt werde. Diese Position wird auf Marx zurückgeführt. In der DDR wurde sie zur unverrückbaren Grundlage der Preisbildungsmethodik. Durch Kalkulation des tatsächlichen, nachgewiesenen Aufwands bei Außerachtlassen als nicht notwendig betrachteter Aufwandselemente, aber unter Einbeziehung eines prozentualen Gewinnaufschlags wurde der Preis nach verbindlichen Regeln staatlich festgesetzt. Die von Christa Luft angedeutete Kritik besagt indes, daß die marxistische Theorie in der Praxis nur ungenügend umgesetzt worden sei.
Demgegenüber vertrete ich die Ansicht, daß die Konzeption selbst fehlerhaft war, ja sogar einen der schwerwiegendsten Irrtümer unserer Interpretation der politischen Ökonomie des Sozialismus darstellte.
Im Folgenden will ich meinen Standpunkt begründen.
Von unseren politökonomischen Vordenkern wurde m. E. nicht in Betracht gezogen, daß Marx in seinen ökonomischen Analysen gar nicht im Sinn hatte, den Wirkungsmechanismus der Marktpreise im Kapitalismus zu analysieren, geschweige denn die Preiskalkulation im Sozialismus zu definieren. Er hatte vielmehr etwas ganz anderes im Auge: die inhaltliche Substanz des Wertes aufzudecken, seine Quelle und damit auch die des Mehrwertes zu begründen. Damit gelang es ihm, das Wesen der kapitalistischen Ausbeutung zu enthüllen: die Aneignung fremder Arbeit durch die Eigentümer der Produktionsmittel. Darin besteht seine wohl genialste, eine Weltanschauung entscheidend mit prägende Entdeckung.
Bei seiner Analyse mußte Marx von den ständigen Schwankungen des Preises um einen Kulminationspunkt abstrahieren, weil sich nur darin – und zwar unbeeinflußt von den Zufälligkeiten der jeweiligen Marktkonstellation – der „reine“ Inhalt des Wertes (= Preises) erkennen läßt. Die Kernaussage der Marxschen Analyse, daß sich letzten Endes die Produkte zu ihren Werten austauschen, wurde von tonangebenden Ökonomen der DDR offensichtlich recht kurzschlüssig so interpretiert, daß man im Sozialismus den Preis direkt aus dem tatsächlichen, kalkulierten (etwas bereinigten) Aufwand herleiten müsse. Bestärkt wurden sie offensichtlich auch aus der Erkenntnis heraus, daß die Marktwirtschaft im Kapitalismus mit gravierenden Negativwirkungen wie Ausbeutung, Anarchie, Überproduktion und Krisen verbunden ist. Deshalb schien es unannehmbar, sich mit diesem Wirkungsmechanismus weiter zu beschäftigen.
Ein anderer Aspekt war, daß unsere polit-ökonomischen Köpfe von der These auszugehen schienen, daß Menschen, welche von der Last der Ausbeutung ihrer Arbeitskraft durch das Privatkapital befreit seien, ihre schöpferischen Fähigkeiten ganz überwiegend voll entfalten würden. Sie müßten ja nicht mehr für andere schuften, sondern wären für sich selbst tätig. Ergänzt wurde diese allzu optimistische Auffassung von der verabsolutierten Bedeutung, die man der Planwirtschaft zuschrieb. Sie wurde fast als alleiniger Kontrapunkt zur spontanen kapitalistischen Marktwirtschaft betrachtet. Der Glaube, mit der Planwirtschaft müsse und könne man den spontanen Marktmechanismus ersetzen, ließ jede konstruktive Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Preisbildungspraxis de facto als überflüssig erscheinen.
Die deutliche Unterschätzung der Möglichkeiten der Marktpreisbildung einer- sowie eine gewisse Überschätzung der Möglichkeiten sozialistischer Eigentumsverhältnisse und der Planwirtschaft andererseits bildeten aus meiner Sicht „Grundtorheiten“ unserer Theorie und Praxis der politischen Ökonomie des Sozialismus. Um es deutlich zu sagen: Es geht mir keineswegs um Gegenüberstellung von Markt- und Planwirtschaft, wie man es häufig liest und hört. Die ist überdies noch mit der tendenziösen Wertung verbunden, auch im Sozialismus müsse die Marktwirtschaft vorherrschen, während der Plan höchstens einige Randbedingungen festlegen dürfe. Meine Überlegungen gehen statt dessen dahin, für ein zukunftsfähiges sozialistisches Wirtschaftsmodell eine Kombination aus Marktpreisbildung und Planwirtschaft zu gestalten. Man könnte gewissermaßen von einer „marktgestützten Planwirtschaft“ bei Dominanz der Planwirtschaft unter Ausnutzung bestimmter Marktpreismechanismen sprechen.
Doch zunächst noch einmal zum Marktmechanismus im Kapitalismus. Dieser ist grundsätzlich politökonomisch neutral; er kann unabhängig von konkreten Produktionsverhältnissen wirken und setzt lediglich das Vorhandensein arbeitsteiliger Prozesse voraus, bei denen relativ selbständige Marktpartner aufeinandertreffen.
Dieser Mechanismus beinhaltet auf der Ebene einzelner Erzeugnisse bzw. Erzeugnisgruppen das Abgleichen der ökonomischen Bedingungen bei Produktion und Anwendung, wobei der Hersteller den Aufwand und die Nutzungseigenschaften sowie die Produktionsmengen bestimmt, während der Anwender den Nutzen realisiert. Die Marktpreisbildung versucht nun, die damit verbundenen gegenteiligen Interessen auszugleichen und einen Kompromiß zu finden, bei dem jeder Partner seine ökonomischen Vorteile gewahrt wissen möchte. Der Produzent will seinen Aufwand gedeckt sehen und darüber hinaus einen Gewinn – also einen möglichst respektablen Preis – erzielen. Dies ist vor allem dadurch möglich, daß er Erzeugnisse auf den Markt bringt, die einen hohen materiellen, ideellen, sinnlichen oder wie auch immer gearteten Nutzen für die Konsumenten ermöglichen und in bedarfsgerechter Menge produziert werden können. Die Verbraucher hingegen orientieren sich auf möglichst niedrige Preise, die in einem angemessenen Verhältnis zu dem wie immer auch definierten Nutzen stehen müssen. Natürlich spielt bei all dem die Zahlungsfähigkeit der Konsumenten eine maßgebliche Rolle. Der Interessenausgleich über den Preis hat, politökonomisch betrachtet, enorme Bedeutung, weil sich damit herausstellt, ob und inwieweit der tatsächlich verausgabte Aufwand Anerkennung findet.
Dieser Gesichtspunkt ist für mich eine entscheidende Komponente bei der Bestimmung des „gesellschaftlich notwendigen Arbeitsaufwandes“. Er muß sich in Qualität und Quantität der hergestellten Produkte bei deren Anwendung bewähren. Doch gerade diese Seite ist in der sozialistischen Preistheorie weitgehend untergegangen. Erst während der letzten Jahre des Bestehens der DDR wurde der Anwendernutzen mit der Einführung des sogenannten Preis-Leistungs-Verhältnisses bei der Preisbildung berücksichtigt – leider viel zu spät, um noch wirksam werden zu können.
Der Marktpreismechanismus hat für die Wirksamkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems fundamentale Bedeutung. Dabei wird der Gewinn des Produzenten von drei entscheidenden Faktoren jeglicher Wirtschaftstätigkeit bestimmt, die letztlich auch für den Sozialismus gelten sollten: von der Höhe des tatsächlichen Aufwandes, von den Nutzungseigenschaften des Produkts und vom Grad der Bedarfsdeckung. Aber dieser Gewinnbildungsvorgang ist nicht nur eine wesentliche Orientierung der Unternehmen auf volkswirtschaftlich rationelles Handeln, sondern zugleich auch Ausgangspunkt für eine maximale Interessiertheit der Unternehmer und der sie unterstützenden Partner wie der Beschäftigten. Denn der Gewinn ist sowohl Quelle des Profits als auch von Dividenden, Manager-Gehältern und Zinsen sowie Löhnen und Gehältern. Darüber hinaus ist er eine wichtige Quelle für die erweiterte Reproduktion.
Das sind die wesentlichsten Triebkräfte in kapitalistischen Unternehmen, die dieses ständige Vorwärtsdrängen hervorbringen. Sie haben nicht nur eine hohe Dynamik entwickelt, sondern sind zugleich auch wichtige Faktoren zur Beschleunigung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts sowie zur Steigerung der Arbeitsproduktivität. Sie ermöglichen ein schnelles Reagieren auf sich entwickelnde gesellschaftliche Bedürfnisse.
Wenn ich hier ein Loblied auf die Marktwirtschaft zu singen scheine, so bin ich dennoch weit davon entfernt, sie einfach auf sozialistische Verhältnisse übertragen zu wollen. Besonders wichtig erscheint mir die Erkenntnis, daß dieser marktwirtschaftliche Mechanismus unter kapitalistischen Bedingungen auch äußerst destruktive Wirkungen zur Folge hat. Wesentliche Merkmale seiner Produktionsweise – von Arbeitslosigkeit über soziale Ungerechtigkeit bis zu Krisen und Kriegen – sind nicht den Marktpreismechanismen an sich geschuldet, sondern dem zügellosen Profitstreben der kapitalistischen Unternehmer. Zweifellos spielt auch die Planlosigkeit (Anarchie) auf volkswirtschaftlicher Ebene eine Rolle.
Die gedankliche Trennung zwischen Marktmechanismus einerseits und privatkapitalistischer Aneignung und Anarchie andererseits führt zu der Überlegung, daß es möglich sein müßte, die Marktmechanismen so auszugestalten und in ein planwirtschaftliches Modell zu integrieren, daß die Vorzüge beider Seiten weitgehend genutzt werden können.
In der Einheit von Marktmechanismus und Planwirtschaft fällt dieser die dominierende Rolle zu. Bei allen Mängeln, die unser administratives Planungssystem belasteten, hat es mit beeindruckenden Erfolgen auf vielen Feldern seine Unverzichtbarkeit für eine sozialistische Wirtschaftordnung bewiesen. Neben der Tatsache, daß auch in der DDR stets Wirtschaftswachstum erreicht wurde, möchte ich besonders hervorheben, daß die angeführten negativen Merkmale des Kapitalismus dank unserer Planwirtschaft nahezu überwunden werden konnten. Unübersehbare Mängel waren u. a. auf Gebieten wie der qualitativen und quantitativen Bedarfsgerechtheit von Produkten sowie bei der Intensivierung festzustellen, die in der kapitalistischen Marktwirtschaft besonders befördert werden. Man kann den Werktätigen der volkseigenen oder genossenschaftlichen Betriebe und Einrichtungen, aber auch den DDR-Wirtschaftsfunktionären die Anerkennung für ihre ganz überwiegend uneigennützigen Leistungen nicht versagen. Doch fast nur aus moralischen und ideologischen Motiven heraus, gepaart mit einem gewissen „Druck von oben“, sind auf Dauer keine hohen Leistungen zu erwarten. Deswegen bin ich der Meinung, daß auch unter den Bedingungen sozialistischer Planwirtschaft die Kennziffer Gewinn eine völlig andere Rolle spielen muß, als das bei unserer „reinen“ Kalkulationspreisbildung möglich war. Theoretisch wurde dem Gewinn auch in der DDR immer eine gewisse Bedeutung beigemessen. Er konnte aber praktisch nie die qualifizierte Wirkung erlangen, welche der Profit im Kapitalismus erzielt.
Ich rekapituliere: Der tatsächlich betriebene Aufwand wurde in der DDR kalkuliert und ein normativer Gewinnsatz aufgeschlagen. Je höher die so berechneten Kosten waren, um so höher und damit besser für die produzierenden Betriebe waren die Kennziffern Warenproduktion und letztlich auch Gewinn. Eine wirkliche Prüfung, inwieweit das jeweilige Produkt tatsächlich qualitativ und quantitativ ein Bedürfnis befriedigte und der verausgabte Aufwand daran gemessen als gesellschaftlich notwendig anerkannt werden kann, fand bei uns praktisch kaum statt. Umgekehrt führten allseitig besonders gute, anerkannte Leistungen (niedrige Kosten, hoher Anwendernutzen usw.) nicht zu angemessen hohen Gewinnen bei der Preisbildung, da auch in diesen Fällen „nur“ der normative Gewinn kalkulierbar war. Natürlich spielten auch andere Regelungen wie Preis-Zu- und -Abschläge, Industriepreisänderungen und Preisstützungen eine Rolle, widerlegen aber meine Grundaussage nicht.
Ein Beispiel mag den Unterschied verdeutlichen: Ein neuentwickelter Staubsauger zeichnet sich durch geringeren Energieverbrauch, höhere Saugleistung, Geräuscharmut und gutes Design aus. Dafür würden – angenommen – die Käufer einen um 20 % höheren Preis akzeptieren. Wenn beim Produzenten hingegen die Kosten nur um 5 % stiegen, würde sich ein entsprechend hoher Gewinn ergeben, bei Kostensteigerung um 25 % hingegen ein Verlust. Das wissenschaftlich-technische Konzept des neuen Staubsaugers müßte gründlich überarbeitet werden. Bei unserer damals praktizierten Preisbildungsmethode würde der Hersteller auch bei der ungünstigen Variante einen normativen Gewinn realisieren können. Positive Impulse wurden dadurch kaum ausgelöst, insbesondere unter dem Aspekt der Aufwand-Nutzen-Optimierung.
Wenn sich also linke Ökonomen der Aufgabe unterzögen, ein künftiges sozialistisches Planwirtschaftsmodell zu entwerfen, würde ich es für unumgänglich halten, eine marktwirtschaftliche Preisbildungsmethodik in dem oben skizzierten Sinne dabei mit einzubeziehen.
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