Hätte der Sozialismus
reformiert werden können?
Bei Daniela Dahn lese ich, daß bei einer Meinungsumfrage Ende November1989 immer noch 86 Prozent für „den Weg eines besseren, reformierten Sozialismus“ waren, nur fünf Prozent wollten einen „kapitalistischen Weg“, neun Prozent einen „anderen Weg“. (Aus: „Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten?“, Reinbek 1994)
Sollte ein solcher „besserer, reformierter Sozialismus“ absolut nicht möglich gewesen sein? Die Zuversicht bei den genannten 86 Prozent auf einen solchen Sozialismus hatte doch eine sehr solide Grundlage. Das waren die tatsächlichen Lebenserfahrungen, die diese Menschen in unserem Land sammeln konnten: die relativ hohe soziale Sicherheit und Gerechtigkeit, die guten Bildungschancen für jedermann, die Frauen-, Familien- und Kinderfreundlichkeit, keine Arbeits- und Obdachlosigkeit usw. Das war den Menschen damals noch sehr nahe, und darauf wollten sie möglichst nicht verzichten. Ich möchte noch andere Fakten hinzufügen, die den einzelnen nicht so unmittelbar berührt haben, aber doch zum Wesen unseres Lebens gehörten, nämlich daß keine Finanz-, Immobilien- oder Bankenkrisen unser Land erschütterten (zumindest keine selbstverursachten), daß keine auswärtigen Kriegseinsätze unserer Soldaten zu befürchten waren, daß auch abgelegenere Landstriche Entwicklungsperspektiven hatten, eine ausgesprochen hohe internationale Wertschätzung der DDR und anderes mehr. Das sind für mich die eigentlichen Merkmale einer sozialistischen Gesellschaft, eben des „Systems Sozialismus“. Wir haben mit den bescheidenen materiellen Möglichkeiten, mit denen wir zurechtkommen mußten, den Bürgern trotz allem eine Lebensqualität geboten, die in vielen Bereichen in der so reichen Bundesrepublik heute und voraussichtlich auch künftig nicht erreicht werden kann.
Ist es wirklich nicht wert zu hinterfragen, wie wir das schaffen konnten? Die wesentlichsten Grundlagen waren: Bodenreform; Überführung der entscheidenden Produktionsmittel in Volkseigentum bzw. sozialistische Genossenschaften; Einführung einer umfassenden Planwirtschaft wie überhaupt eine bewußte, auf das Wohl der Menschen gerichtete Gestaltung aller Lebensbereiche. Das sind meiner Meinung nach – vereinfacht zusammengefaßt – die grundlegenden Elemente jeglichen sozialistischen Gesellschaftsmodells, das sich in unserem Leben bereits begonnen hatte, zu bewähren. Vor allem scheint mir wichtig, daß wir damit bewiesen haben, daß die kapitalistische Anarchie mit ihren verheerenden Auswirkungen einer Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich bis hin zu Krisen und Kriegen überwunden werden kann.
Allerdings, und das war unser Problem, muß man eine solche Grundstruktur täglich neu mit Leben füllen. Ein stabiles Fundament zu haben, reicht allein nicht aus; es kommt auf das Haus an, das darauf errichtet werden soll. Es hätte eine ständige Vervollkommnung und Weiterentwicklung des Umgangs mit diesen geschaffenen Grundstrukturen geben müssen, was aber weitgehend unterblieb. Die Möglichkeiten, die wir in den ersten 20 Jahren geschaffen hatten, haben wir vor allem in den darauffolgenden Jahren schlecht genutzt und damit letztlich zu unserem Untergang selbst beigetragen.
Die Frage ist für mich nur, ob die erheblichen Defizite, zu denen ich mich ja auch bekenne, unabwendbar waren, sozusagen aus dem Wesen des Sozialismus heraus zwangsläufig auftreten mußten (etwa so, wie im Kapitalismus Krisen und Arbeitslosigkeit unabwendbar sind), oder ob sie vermeidbar gewesen wären, wenn man rechtzeitig – und nicht erst, wenn „das Kind in den Brunnen gefallen ist“ – entsprechende Reformen in Angriff genommen hätte. Meines Erachtens lag das Problem nicht an der „objektiven“ Nichtreformierbarkeit des DDR-Sozialismus, sondern eindeutig an der Reformunfähigkeit und -unwilligkeit der damaligen Führungskräfte. Ich will das am Beispiel des „Neuen Ökonomischen Systems“ (NÖS) darstellen.
Dieses Konzept einer wesentlichen Reformierung des zentralistischen, administrativen Planungssystem (was anfangs durchaus notwendig und erfolgreich war), wurde auf Beschluß der damaligen Parteiführung unter Walter Ulbricht von Wissenschaftlern, Wirtschaftsfunktionären und -praktikern ausgearbeitet und mit beginnenden Erfolgen umgesetzt. Dieser Reformwille und demokratische Denkansatz ging vor allem in Richtung Stärkung der Rechte und Verantwortung der dezentralen Wirtschaftseinheiten. Dazu sollten verstärkt die Wertkategorien genutzt, sozusagen die Marktwirtschaft unter gesellschaftliche Kontrolle gestellt werden. Von besonderer Bedeutung war, daß die Dominanz der zentralen staatlichen Planung nicht in Frage gestellt wurde. Ihre Aufgaben sollten sich auf die bewußte Beherrschung der gesellschaftlichen Gesamtzusammenhänge konzentrieren. Dazu sollten verstärkt die Wertkategorien genutzt, sozusagen die Marktwirtschaft unter gesellschaftliche Kontrolle gestellt werden.
Auch wenn dieses Konzept noch nicht perfekt war, wesentlich ist für mich vor allem, daß überhaupt die Bereitschaft zur Weiterentwicklung unseres Planungs- und Leitungssystems vorhanden und die Denkrichtung auf eine Demokratisierung der Wirtschaft gerichtet war. Aber bereits schon kurz nach Inkraftsetzung erster Elemente dieser Reform begann deren systematische Demontage. Konservative Kräfte in der Parteiführung haben diesen Ansatz letztlich zu Fall gebracht. Die Gründe dafür liegen in einer ideologischen Borniertheit, einem politischen Dogmatismus, einer Furcht vor Machtverlust – aber auch (nicht ganz unberechtigt) vor einer eventuellen Restaurierung marktwirtschaftlich-kapitalistischer Verhältnisse.
Der Sozialismus in der DDR ist nicht gescheitert an der Planwirtschaft und nicht am Volkseigentum an sich, auch nicht an der „führenden Rolle der Partei“, sondern an der völlig unzureichenden Nutzung und Weiterentwicklung der auf dieser Grundlage geschaffenen Möglichkeiten. Wenn es also darum geht, das Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell einer sozialistischen Zukunft zu konzipieren, muß man m. E. an den genannten Grundelementen anknüpfen, diese aber doch deutlich anders ausgestalten, als wir es damals getan haben.
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