Wie die „Perle der Antillen“ einmal mehr unter die Räuber fiel
Haitis Desaster nach der Naturkatastrophe
Während auf Haiti nach den eher an Klamauk erinnernden Präsidentschaftswahlen vom 25. Oktober mit dem Unternehmer Jovenel Moïse für die zweite Runde am 27. Dezember eine weitere Marionette vorn liegt, gehen unsere Gedanken in die Zeit vor fast sechs Jahren zurück. Am Nachmittag des 12. Januar 2010 ereignete sich ein Erdbeben der Stärke 7, das die Hauptstadt Port-au-Prince total verwüstete und mehr als 200 000 Menschenleben forderte. An den folgenden Tagen starben weitere 30 000 Schwerverletzte. 1,5 Millionen Haitianer verloren ihre ganz überwiegend kärglichen Unterkünfte. Seitdem hat Haiti – die erste schwarze Kolonie, die schon 1804 ihre Unabhängigkeit von Frankreich errang – nicht wieder zu einer wie auch immer gearteten Normalität zurückgefunden. Von den 48 Krankenhäusern, die es vor dem Beben gab, blieben nur elf zur „Versorgung“ von zehn Millionen Menschen übrig. Noch heute vegetieren Zehntausende in Camps oder Notquartieren inner- wie außerhalb von Port-au-Prince.
Zu allem Unglück brach damals auch noch eine Cholera-Epidemie aus, die fast 9000 Opfer forderte. Die Seuche hatten Soldaten einer UNO-Truppe eingeschleppt.
Doch die Solidarität hilfsbereiter Menschen aus allen Teilen der Welt war überwältigend: Im November 2010 verlautete, 9,9 Mrd. Dollar seien international für Haiti gespendet worden. Diese Summe hätte für einen seriösen Wiederaufbau gereicht.
Doch es kam ganz anders: Kapitalistische Experten in der Ausnutzung von Naturkatastrophen wie die Heritage-Stiftung zögerten keinen Augenblick, Haiti ihre „Regeln“ aufzuzwingen. Diese wurden wie andere Ausbeutungsmechanismen der US-Monopole als „Reformen“ verkauft. Den wahren Instinkt solcher „Helfer in der Not“ enthüllte folgender Wortlaut einer Mitteilung der Heritage-Zentrale wohl am treffendsten: „Über das Erweisen sofortiger humanitärer Hilfe hinaus eröffnet das tragische Erdbeben in Haiti den Vereinigten Staaten Möglichkeiten zur Neuformierung der dortigen Regierung und Wirtschaft. Überdies kann das öffentliche Image der USA in der Region auf solche Weise verbessert werden.“
Nur Stunden nach der Naturkatastrophe hatte die U.S. Army Haitis hauptstädtischen Flughafen unter ihre Kontrolle gebracht. Um zu beweisen, wer fortan in Port-au-Prince das Zepter zu schwingen gedenke, hißten GIs auf dem Airport vorsorglich das Sternenbanner. Die Haitianer haßten die Stars and Stripes aus der Zeit zwischen 1915 und 1934 sowie von 1994 bis 1997. Damals war Haiti, das sich mit der Dominikanischen Republik die Insel Hispañola teilt, de facto unter USA-Kontrolle.
Während sich die im Januar 2010 gelandeten GIs nur um sich selbst und die Evakuierung von Ausländern kümmerten, sprach Washington zugleich in hohen Tönen von einer „humanitären Aktion“. Während ununterbrochen neue Maschinen der U.S. Air Force auf den Pisten niedergingen, wurde einem Transportflugzeug der Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ die Landeerlaubnis „aus Sicherheitsgründen“ verweigert.
Warum aber hatten es das Pentagon und die Obama-Administration, für die echte Solidaritätserwägungen keine Rolle spielten, so eilig? Die Enthüllungsplattform Wikileaks spielte der Wochenzeitung „Haiti Liberté“ kurz nach der Naturkatastrophe eine streng vertrauliche Depesche des US-Botschafters Kenneth Merten in die Hände, die das Blatt am 1. Februar 2010 publizierte. „Jetzt öffnen sich die Straßen zum Gold“, hieß es darin. „Während sich Haiti aus den Trümmern herauszuwühlen versucht, können sich die verschiedensten Unternehmen in Position bringen, um ihre Konzepte, Produkte und Dienste zu verkaufen.“
Der damals neue haitische Präsident Michel Martelly – er stammt aus dem Entertainermilieu und ließ sich dem breiten Publikum daher besser als sein Vorgänger verkaufen – erklärte im Mai 2011 bei seiner Amtseinführung: „Haiti ist für Geschäfte offen.“ Bei der Einweihung eines von den USA finanzierten Industrieparks, für den 366 Kleinbauern weichen mußten, wurde Martelly noch deutlicher: „Die Stunde ist nicht fürs Assistieren geeignet, sondern für dauerhafte Investitionen. Haiti öffnet sich für Geschäfte unwiderruflicher Art.“
Was das U.S. Business unter derlei Geschäften versteht, wird anderswo als Plündern bezeichnet. Mit Hilfe Martellys tobten sich die natürlich steuerbefreiten Konzerne aus dem Norden des Kontinents ungehemmt aus – vor allem auch durch Zahlung von Hungerlöhnen an ihre einheimischen Beschäftigten. Viele der Erzeugnisse bekommen die Haitianer erst gar nicht zu sehen. Sie werden komplett in die USA exportiert.
Am besten kannte sich der einstige Volksmusiksänger Martelly in der Botschaft von Uncle Sam aus. Hier, wo man ihn noch als „Sweet Micky“ in Erinnerung hat, wußte man ohne Zweifel, daß der „noble“ Besucher mehr als 15 Jahre die Mitgliedskarte der Tonton-Macoutes – der Terrormilizen des einstigen Diktators François Duvalier und dessen bis 1986 in Port-au-Prince weiter wütenden Sohnes Jean-Claude – besaß.
Während 72 % der Bürger Haitis unterhalb der dort geltenden Armutsgrenze vegetieren, schwimmt eine hauchdünne Oberschicht als Häubchen auf der Sahne. Dafür sorgen vor allem die sogenannten Nichtregierungsorganisationen (NGOs), deren Zahl sich nach dem Erdbeben auf fast 10 000 belaufen haben soll und von denen nach offiziellen Angaben noch immer 960 bestehen.
Doch auch der Widerstand erstarkt. Im Dezember 2014 riefen 17 demokratische Vereinigungen und Massenorganisationen Haitis dazu auf, die Situation nüchtern zu analysieren und Veränderungsideen der ausländischen Presse zugänglich zu machen. An der Spitze eines Katalogs von ihnen erhobener Forderungen steht das Verlangen nach gerechter Bewertung einheimischer Erzeugnisse, nach Arbeiterrechten, dem Bau von Sozialwohnungen und der Beseitigung einer Scheinjustiz.
RF, gestützt auf „Solidaire“, Brüssel
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