Gisela Steineckert: Hand aufs Herz
Gisela Steineckert
Draußen in den Dunkelheiten
wächst ein böser Gott
der läßt den Kerl auf der Nutte reiten
und fährt dein Auto zu Schrott
der füllt dem Schluckhals zum xten Mal
das verhängnisvolle Glas
legt auf Mädchenmünder den Würgeschal
pustet die Flamme vom Gas
draußen in den Dunkelheiten
fahren Züge ein
ich seh Leute schnell auf Sitze gleiten
„kommen Sie bloß mit rein“
und ach, das ist ein wahrer Witz
du brauchst deine Beine kaum
von der Haustür bis zum Fahrersitz
ist ein relativ sichrer Raum
draußen in den Dunkelheiten
wächst ein fremder Gott
den gabs nicht in anders schweren Zeiten
du kommst ihm nicht bei mit Spott
Willst du ihm sein Recht bestreiten
kriegst du was zu hörn
Freiheit brauchts nach allen Seiten
du willst wohl die Mauer beschwörn
O Gott! wie mußt du dich schämen
daß dein Knecht seine Chance verpaßt
er sollte die Bibel beim Worte nehmen
es mangelt nicht an neuer Last
Damals wußte ich noch nicht, wie weit fort von Bibel und Kanzel Pfarrersfüße traben können. Und da ich Respektspersonen unter ihnen kannte und verehrte, fehlte mir der Mut zu frecher Verallgemeinerung. Ich schwankte zwischen tiefem Erschrecken über die neuen Schrecknisse und Lust zum Widerstehen.
Die zitierten Verse schrieb ich 1992. Sie erschienen in einem Buch, das mein Verleger Chowanetz noch ermöglichte, ehe auch ihm alle Unbill widerfuhr. Er hatte Karl May wiedererweckt, das sprach für ihn, aber zu den Gründern seines Verlages gehörten zwei Genossen, in der Nazizeit verfolgte Antifaschisten, später in der DDR „führend“. Solche Grundsteine mußten zerschlagen werden. Anderes kam in der umfassenden Unordnung nach oben und verhielt sich kriminell. Einige Mitschüler der Enkelin schwänzten die Schule, um in Westberlin zu klauen, vor allem Jeansjacken, Plakate und Zigaretten, aber auch Schnaps und Kassetten. Sie zeigten die Beute her. Einige dieser vorher unauffälligen Schüler kriegten sich nie wieder ein. Sie wollten eine Freiheit, die es nicht gibt, und sie verstanden darunter ein Leben ohne Mühen, ohne Ausbildung und ohne Bindungen. Sie suchten nach dem grandiosen Trick, der Reichtum und Abenteuer wie im Fernsehen verschafft. Es schien ja möglich. Da kam einer aus dem Westen und haute dank der „Treuhand“ mit unserem Riesenrad aus dem Treptower Kulturpark ab. Ein anderer verscherbelte den gesamten „Rundfunk der DDR“ samt kostbarem Boden für ein Trinkgeld, das ihm reichte, um zu verschwinden. Die Anlage samt modernster Technik hatte vorher niemandem, und also allen, gehört.
Es kamen adlige „Nachfahren“, die bei Widerstand jeden Prozeß gewannen und entweder mit den Kostbarkeiten aus den Museen abrauschten, den alten Herrensitz zu neuen Ehren brachten, oder mal eben, wie die reiche Fürstin aus Bayern, in der Nähe von Ohrdruf einen ganzen unersetzbaren Wald absägten, um das Holz zu verkaufen.
All das kaum Aufzählbare haben kundige und gewissenhafte Autoren inzwischen dokumentiert. Das hat auch mir geholfen, Zweifel zu klären und sich alten Wissens neu zu bedienen. Oder Lücken zu schließen, damit nötiges Aufbegehren sich nicht in Gefühlen erschöpft. „Erwirb es, um es zu besitzen“, die Betonung hat Goethe dabei auf das erste Wort gesetzt.
Heute würde ich kein Buch mehr so nennen wie Anfang der Neunziger. Jeder Krieg richtet sich gegen alles Lebendige. Mann oder Frau, wir wollen keinen mehr beweinen und verweigern uns einer Trauer, wie sie Käthe Kollwitz alle Zeit ihres schmerzreichen Überlebens um ihren „Freiwilligen“ Peter erdulden mußte, als Schuldige an der verhängnisvollen Unterschrift für den jugendlichen Sohn. Im scheinbaren Frieden habe ich Familien verzweifeln sehen. Ich suchte eine Aufgabe, einen Platz, der laute Worte und eine klare Haltung ermöglichte. Wir kamen uns in der Mitte entgegen, die Frauen und ich. Sie suchten eine Person, mit der sie neu anfangen konnten. Ich wollte sie eigentlich nur besuchen. Als Trägerin ihres Literaturpreises war ich ihnen das schuldig. Acht Wochen nach meinem Besuch wurde ich für acht Jahre die gewählte Vorsitzende des Demokratischen Frauenbundes. Noch immer bin ich dessen Ehrenvorsitzende.
Der einzige, der mir nach der Meldung in der Zeitung zu diesem Amt gratulierte, war Peter Hacks. Er sagte am Telefon: „Ich verstehe, warum du das machst. Es ist richtig.“ Andere Wohlmeinende mögen gedacht haben: Soll sie doch mal kürzer treten oder Ruhe geben. Ruhe war nicht angesagt. Nur wußten wir am Anfang nicht, was uns bevorstand. Zum Beispiel Forderungen, die niemand erfüllen konnte. Die Lady von der „Treuhand“, in der Gesinnung eine Schwester der Thatcher, wollte Geld. Sechs Millionen aus „unserem Vermögen“. Der DFD wurde aber Ende des Jahres immer auf Null gestellt und bekam im Januar jeweils Geld für das Nötige. Woher nun sechs Millionen nehmen und an die Treuhand zahlen? Jeder von uns bezahlte noch das Porto selber. Nach jahrelanger „Beweisführung“ ging es vor Gericht. Ich werde nie das Gesicht des Richters vergessen, als die Frauen aus den „neuen“ Ländern die Treppen hoch in den Saal kamen, sich auf die Fensterbänke setzten, oder auf die Erde, weil hier „ihre“ Sache verhandelt wurde. Er hat gegen die rasch auftauchenden Saalräumer das Bleiben der Frauen verfügt. In der Mitte des Prozesses dachte ich, der Richter werde gleich den Talar raffen und dem Vertreter der Treuhand eine Ohrfeige geben. Er tat es verbal. Aber am Ende blieb die Forderung nach 2 Millionen D-Mark für die Treuhand. Wir haben diese Summe abgearbeitet.
Dafür waren viele Ideen nötig, und als wir es geschafft hatten, waren wir nicht etwa stolz. Unrecht bleibt bitter, bleibt Unrecht. Nie zu entgelten, wie viele Ehemänner und solidarische Mitkämpfer uns bei jeder Unternehmung geholfen haben. Ich habe klugen Männern ebensoviel zu danken wie solidarischen Frauen. Emanzipation braucht es für Mann und Frau, damit wir unserer Verantwortung für das, was wir immer noch Heimat nennen, gerecht werden können. Leicht ist das nicht. Noch können die Unterdrückten durch die Almosen aus unseren Steuergeldern die Unterdrückung ertragen. Noch stehen viele lieber eine Nacht lang an, um das neueste Handy drei Tage früher zu kriegen, statt sich einzureihen, wo es um Veränderung auch ihrer Lebensumstände geht. Und viel aufgebrachte Mühe läuft ja auch ins Leere. Wir Frauen haben 200 000 Unterschriften für die Zulassung einer verbesserten „Pille“ im Reichstag persönlich übergeben. Und nie wieder etwas davon gehört.
Ich weiß heute, daß ich damals – 1992 – nur einen Zipfel des Bühnenbildes gelüpft habe. Ich wußte es vorübergehend nicht besser. Nicht einmal, daß ich unbedingt mehr hätte wissen müssen.
Aber ich bin als Wahlfrau für Sachsen dabeigewesen, als die SPD es im dritten Wahlgang immer noch nicht schaffte, ihren Präsidenten der Herzen an uns vorbei ins Amt zu bringen. Das war ein wunderbarer Moment in meinem Leben. Für das ich noch eine Menge lernen muß. Na und? Wenn ich etwas nur schwer oder gar nicht verstehe, kann ich ja immer noch Klaus Steiniger fragen. Der weiß, warum das Wasser naß ist, oder ob es nicht doch vielleicht Tränen waren, die man trocknen kann. Es lebe …, aber das sagen wir uns, wenn wir uns sehen.
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