RotFuchs 203 – Dezember 2014

Frohe Weihnachten, Ihr Lieben!

Gisela Steineckert: Hand aufs Herz

Gisela Steineckert

Ihr Lieben! Kommt, kommt zu Weihnachten, kommt ganz so wie früher, erwartungsvoll, ein bißchen überfordert, aber hungrig nach allem.

Nach schönem Tischschmuck und üppiger Atzung, schönen Geschenken und daß sie wie früher im dunklen Schlafzimmer zu leichtem Griff hingestellt wurden oder ihres besonderen Wertes wegen hier versteckt sind, damit Dramaturgie möglich ist. Die Reihenfolge der Abholungen muß erst mit einem großen grünen Stoffwürfel erspielt werden. Schummeln und Streit sind erlaubt.

Laßt uns sein wie früher, es muß duften, und das geduldige Mutterherz hat große Ohren, bei großzügigem väterlichem Ausschank, ganz wie früher, aus der großen Pulle, damals Intershop – nur die Flasche werdet ihr nun nicht mehr anstaunen, macht nix. Es wird gütige alte Augen geben über eure Geschenke, die zum Fest nicht mehr ganz so gut passen wie zu dem Zeitpunkt, als sie Schnäppchen waren. „Hätten wir lieber, aber das gab’s nicht“, gilt ja nun nicht mehr, denn anscheinend gibt es nun alles. Nicht gerade etwas Bestimmtes, da kannst du dir auch heute die Hacken ablaufen, aber solche Hacken hattet ihr eigentlich nie, jedenfalls ist mir nicht erinnerlich, daß wir je Bauklötzer gestaunt hätten.

Kommt zu zweit, auch wenn ihr gerade verzankt seid, weil der liebe aktuelle Partner eigentlich nicht schon wieder hierherkommen wollte, da er doch bei den eigenen Angehörigen gerade zu Weihnachten nie mehr auftaucht – was alle dort richtig finden, weil er sowieso nichts zum inneren Frieden beigetragen hat. Wir erfahren schnell, daß er eine Persönlichkeit ist, welche gegen alles revoltiert, was es schon immer gegeben hat, wobei er mit „immer“ seine eigene Lebenszeit meint.

Zu dem, was es statt dessen geben sollte, hat er weniger Meinung, und wir haben noch am selben Abend den Eindruck, daß er mit dem Wechseln einer Glühbirne überfordert wäre. Aber das stellen wir sofort lernwillig in Frage, weil wir uns in diesem und jenem auch schon getäuscht haben, wenn auch nicht sehr.

Wir haben von den nächsten Generationen bereits viele Pläne zur Veränderung der Welten gehört, langweilige und bombastische, vorzüglich solche, von denen nie wieder jemand sprach – und das war auch gut so. Wir wissen, der neue Dauerredner des Abends bleibt, nach mürrischem Eintritt, schließlich als Letzter zurück, wenn die anderen schon zum Aufbruch drängeln, froh über alle doch entstandenen Überraschungen und Freuden, gerührt und irgendwie halbwegs entschlossen, von nun an unsere Familie an die erste Stelle zu setzen und dauernd beim anderen aufzutauchen, was zum Glück morgen auf sein Alltagsmaß zurückgestuft wird.

Jetzt, am frühen Abend, wollen und sollen sie den häuslichen Gemütlichkeiten zustreben, wenn auch nicht sofort. Sie werden ausreichend bepackt sein, aber auch ein bißchen überfressen. Ente ist ja wirklich irgendwie – nein, war schon richtig, aber ihr sollt doch nicht immer – was? Was? Nicht so viel Geld ausgeben, so lange in der Küche stehen … ach so. Wir sagen nicht, daß sie Ihrs immer gekriegt haben, das wissen sie und wir in unserer Patchworkfamilie, und vermutlich ist es kein Geheimnis, daß wir die alten Bräuche im Grunde der Enkelin zuliebe beibehalten. Aber die ist ja auch ganz anders, ein wunderbarer Mensch, für den ich im Wald Weihnachtspilze suchen würde, wissend, daß es sie nicht gibt.

Die Lieben mit dem schlechten Gewissen sagen, alle müssen mal runterfahren. Klar, Pfingsten sind die Geschenke am geringsten, aber ihr habt das Glück, daß ihr fast nie Zeit habt und immer erst im letzten Moment … alles in Ordnung. Wir sind sehr altmodisch, ich jedenfalls fange immer im Februar an, die Geschenke zu sammeln und mein Blusenfach zu füllen. Kriegskinder sind so, und als DDR-Bürgerin hatte ich keinen Grund, meine Gewohnheiten zu ändern. Da war ein neues Buch von der ersten Auflage ein richtig großes Geschenk, so billig es auch im Vergleich zu heute war.

Einmal kam mein Verlagsleiter Rudi Chowanetz von der Leipziger Messe und sagte: „Du bist überzeichnet, zweimal.“ Damit meinte er, daß eine Erstauflage von zwanzigtausend Gedichtbänden zu niedrig gewesen sei. Ich wollte gerade geschmeichelt gucken, da fügte er hinzu: „Alle! Manche noch viel mehr.“

Deswegen waren die „Prinzenbücher“ mit den vielen wunderbaren Zeichnungen aller bekannten Pflanzen und Tiere so ein großes Geschenk. Aber „Clochemerle“ auch, und damals lasen die Leute in der U-Bahn dieses freche Werk, denn es gab zum Glück noch keine I-Phones oder Handys. Mit deren Besitz werden Benutzer zu manisch-panischen Meldern, die keinen Kontakt zu anderen Lebewesen brauchen.

Nein, ich werde dieses Thema heute nicht auf den übervollen Tisch bringen.

Ihr werdet gehen, ihr Lieben, nachher. Ihr macht natürlich das meiste anders. Und wundert euch wieder, jedes Mal. Du wärmst vor dem Essen immer noch die Teller, kostet Strom. Und: Essen fertig, Küche fertig?

Wißt ihr was? Macht mir eine Urenkelin, damit das Angebot an wunderlichen Weibern fortgesetzt werden kann. Legt sie mir in den Arm, und ich werde lachen und heulen, denn was immer in der Welt geschieht, sie kann mit solchem empfindlichem Leben im Arm nicht am Ende sein.

Die alte Platte? Der altmodische Plattenspieler steht ja nur deswegen noch an seinem Platz – für diesen Augenblick, in dem das Jahr sich neigt und wir uns, die noch Fremden eingeschlossen, haben dürfen. Siehe, die Seele vergräbt schlechte Augenblicke, unpassende Anrufe, versäumte Gelegenheiten und Änderungen, die wieder nicht eingetreten sind. Aber: Wir sind zusammen, jetzt, noch!

Ich verspreche der Enkelin mit einem Blick, daß wir morgen ganz allein über alles reden werden, und ich war vor eurem Auftauchen bemüht, eine gute Betriebsleiterin und Mutter Erde gleichzeitig zu sein.

Haben wir heute eure Seele erreicht? Mir scheint, daß ihr jetzt anders schaut. Als wenn ihr die anderen wieder einmal wahrnehmt. Wie sie waren, und wie sie geworden sind.

Keiner von uns hat immer alles richtig gemacht. Wir lieben uns noch, wir sind noch eine Familie, und draußen gibt es noch eine große Welt, in der wieder einmal ein Plan umgesetzt wird, der alles Lebendige gefährdet.

Wir wollen das heute nicht unerträglich vertiefen, aber laßt mich doch glauben, daß es euch angeht und ihr eine Meinung dazu habt.

Wir können uns auch streiten, nicht gerade jetzt, aber ab morgen jederzeit. Es wäre ein göttlicher Augenblick, an frühere Gewißheit anzuknüpfen: Zu den Dingen der Welt sind wir uns einig. Was hast du denn gedacht?

Um ehrlich zu sein, ich freue mich auf euch. Egal, wie immer ihr hier anlandet, wahrscheinlich ein bißchen zu spät, überfordert, unausgeglichen, sichtlich bemüht, uns auch diesmal den Vorlauf an Erfahrung zu verzeihen. Manches Ritual lebt ja noch: Wir tauchen den Löffel erst in die Suppe, wenn alle am Tisch sitzen und einander guten Appetit gewünscht haben. Mit Blick in die Augen, und vielleicht nehmen wir uns sogar wie früher bei den Händen, das ist doch schön. Das macht man nicht mehr? Haben Kantinenbesucher heute keine Manieren?

In unserer Familie bleiben gerade die sehr lebendig und werden weitergereicht. Sie sind doch ein wichtiger Teil der Kultur. Wir lesen ja auch alle noch, und manchmal kriegen wir ein Buch geschenkt, das vorher unsere Gabe war. Auch gut!

Frohe Weihnachten, nicht trotz, sondern in Familie!