Eine „RotFuchs“-Veranstaltung im Spiegel
einer bürgerlichen Zeitung
„Hannoversche Allgemeine“:
Genosse Egons Welt
Neubrandenburg. Er geht ziemlich geschickt vor, wie er so die Welt erklärt und seinen Zuhörern doch genau das sagt, was sie hören wollen. Zum Beispiel über die Bundeskanzlerin. Nein, sonderlich viel hält Egon Krenz nicht von Angela Merkel. Aber ihre Flüchtlingspolitik, die findet der Nachfolger von Erich Honecker und einstige Staatsratsvorsitzende der DDR „human“.
Und dann kommt ein kleiner Nachsatz, der alles in Perspektive rücken soll: „Wenn ich Angela Merkel sehe und höre, denke ich: Ein Stückchen DDR steckt eben immer noch in ihr.“ Applaus brandet auf bei den gut 100 Zuhörern im „Seniorenbüro“ in Neubrandenburg. Krenz und sein Publikum, das ist eins: Von Merkels Politik halten sie rein gar nichts, von der Bundesrepublik als solcher auch nicht. Und wenn dann doch mal etwas gut läuft im Kanzleramt, dann führen sie das auf die DDR-Prägung der Frau aus der Uckermark zurück. In diesem Kreis hat die DDR bis heute einen durch und durch positiven Klang, ausnahmslos.
Egon Krenz wurde angekündigt, und der Andrang ist groß. Ein Schild mit der Aufschrift „Wegen Überfüllung geschlossen“ muß an die Tür gehängt werden. Kaum einer im Saal ist jünger als 80, alle sind auf persönliche Einladung gekommen. Krenz ist Ehrengast der „RotFuchs“-Regionalgruppe in Neubrandenburg.
Der „RotFuchs“, Monatszeitschrift und „Tribüne für Kommunisten und Sozialisten“, hat im Osten Deutschlands eine treue Leserschaft. Alle vier Wochen laden die Neubrandenburger Rotfüchse zu einer „politischen Bildungsveranstaltung“ ein. Man bleibt unter sich, weiß sich einig im politischen und historischen Urteil. Im Juni etwa steht ein Vortrag zur Frage „Wo stehen wir ein Vierteljahrhundert nach der Konterrevolution?“ auf dem Programm. Mit „Konterrevolution“ ist die Wiedervereinigung gemeint. Als Referent trägt Hans Bauer vor, einstiger Generalstaatsanwalt der DDR. Aus Sicht der Hardliner unter den „RotFuchs“-Aktivisten war die Revolution von 1989 ein Werk von gesteuerten Kräften, die nur eines im Sinn hatten: dem Sozialismus zu schaden.
All jene, die an diesem Tag Egon Krenz zuhören, hatten in der DDR Einfluß und Ansehen, und sie sind unzufrieden mit dem, was nach 1989 in Deutschland geschah. Manche sind überzeugte Kommunisten, andere wollen sich nur an ihre eigene große Zeit in der DDR erinnern. Ein alter Mann hat ein Fotoalbum mitgebracht, ein anderer empfiehlt einen Aufsatz, den er jüngst gelesen hat. Ein dritter richtet Grüße aus von einem Genossen, der heute nicht dabeisein kann. Ein bißchen ist es wie ein Familientreffen – und ein bißchen wie früher die Arbeitssitzung einer SED-Betriebsgruppe.
Das gilt auch für Egon Krenz selbst. Der letzte SED-Generalsekretär, der jahrzehntelang zu den Mächtigsten in der Parteiführung gehörte, Honeckers „Kronprinz“ war, im Herbst 1989 selbst an die Spitze des Staates als Staatsratsvorsitzender kam und sich dort aber nur wenige Wochen halten konnte, ist eine tragische Figur der deutschen Geschichte. Unter seiner Führung wurde die Öffnung der Mauer beschlossen, doch Krenz konnte seinen Plan einer vorsichtigen Öffnung nicht mehr umsetzen. Er wurde von der Entwicklung weggefegt und einige Jahre später wegen des Schießbefehls an der Grenze verurteilt. Für knapp vier Jahre mußte er ins Gefängnis. Heute gibt Krenz nur selten Interviews, hält Distanz zu Journalisten. In „RotFuchs“-Gruppen aber, unter seinesgleichen, fühlt er sich zu Haus, hierher kommt er gern, öffnet sich vor einem durch und durch wohlgesinnten Publikum. Der Mann mit dem charakteristischen Kopf ist gealtert. Seine Stimme aber klingt laut und klar wie einst. Auch das, was er sagt übers Weltgeschehen, klingt wie einst, als habe die DDR nie aufgehört zu existieren.
Sein einstündiger Vortrag in Neubrandenburg ist eine Mischung aus historischen Einschätzungen und Kommentaren zur aktuellen Entwicklung. Das geht dann von der Frage, ob man Hitlers „Mein Kampf“ lesen sollte, über die Außenpolitik bis zum Umgang mit der AfD.
In vielen Passagen schimmert Rechtfertigung für das durch, was die SED-Diktatur zu verantworten hat. Bereut er den Bau der Mauer? Krenz spricht vom damaligen Konflikt zwischen USA und Sowjetunion und fügt knapp hinzu: „Der 13. August 1961 hat die weltpolitische Lage entschärft.“ Wenig später wirkt er plötzlich einsichtig, wenn er sagt: „Eine Hauptlehre aus dem Untergang der DDR ist für mich, daß wir vorher mehr miteinander hätten reden müssen.“ Keine Frage: Für Krenz wie für die meisten seiner Zuhörer ist es die größte Niederlage der Geschichte, daß es die DDR nicht mehr gibt – und damit auch keine Vormachtstellung der Einheitspartei mehr.
Aber der 78jährige jammert nicht, er verkündet seine Mission: Der Frieden, meint er, könne nur „bei einem anhaltenden Gleichgewicht zwischen den Blöcken“ gewahrt bleiben. Dieser Grundsatz werde ständig verletzt, weil die USA stets ihre Macht ausweiteten – und Rußland demütigten. „Das Gefährlichste für die Amerikaner wäre ein Bündnis zwischen Rußland und Deutschland“, sagt Krenz – und empfiehlt genau diesen Schritt. Rußlands Präsident Wladimir Putin sei „zwar kein Sozialist, leider“, aber er vertrete, anders als seine Vorgänger, „endlich wieder die russischen Interessen“. Im Westen werde Putin „zum bösen Buben für alles“ gestempelt.
Das sei riskant: „Wie weit wollen die Herrschenden dieses Spiel noch treiben? Bis einer die Nerven verliert?“
Nicht nur auf Moskau richtet Krenz seine Hoffnungen, auch auf Peking. Dort, berichtet er, habe er sich neulich für längere Zeit auf Einladung der Kommunistischen Partei aufgehalten. Er wurde von Funktionären empfangen, diskutierte mit Studenten, schaute sich Fabriken an. „Erstaunlich“ habe sich das Land entwickelt, schwärmt Krenz. Dabei sei, wie früher in der DDR, die führende Rolle der Partei als unantastbar festgeschrieben: „Ich habe große Hoffnung, daß dieses Experiment gelingt.“
Bedenken habe er gegen Teile dieses Modells schon. Welche, sagt er nicht – aber offenbar bekümmert ihn die führende Rolle der KP am wenigsten.
Mehr ist es die Tatsache, daß China auch mit dem Todfeind paktiert, mit dem Kapitalismus. Einige Zuhörer fragen später, ob er die Russen und die Chinesen nicht doch etwas zu positiv sehe – schließlich seien das doch gar keine reinen Kommunisten mehr.
Doch Kritik bleibt selten, die meisten Krenz-Thesen ernten Beifall und große Zustimmung. Unausgesprochen geht an diesem Tag immer eine Frage durch den Raum: Wer ist eigentlich schuld am Ende der DDR, an diesem epochalen Wendepunkt, der für die meisten hier im Raum einen gesellschaftlichen Abstieg bedeutete?
Ein Zuhörer will wissen, ob der sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow, der 1990 sein Jawort zur deutschen Wiedervereinigung gab, ein Verräter gewesen sei. „Einen Verrat aus Berechnung schließe ich aus“, meint Krenz, der Gorbatschow „naiv“ und „gutgläubig“ nennt. Aber es könne ein „Verrat aus Schwäche und Eitelkeit“ gewesen sein. Diese Botschaft gefällt den Zuhörern: Es lag wohl an äußeren Umständen und politischen Entscheidungen, nicht an eigenen Fehlern, daß es die DDR heute nicht mehr gibt.
Zum Schluß überreicht Wilfried Berthold, Leiter der „RotFuchs“-Kontaktgruppe Neubrandenburg, Krenz einen Strauß Tulpen. „Die Lieblingsblumen meiner Frau“, meint der Gast und reicht das Geschenk freudestrahlend an Erika Krenz weiter. Berthold liest zum Abschluß eine vorformulierte Erklärung vor, darin nimmt er noch einmal Bezug auf die Haftzeit von Krenz: „Dieser sogenannte Rechtsstaat war nicht befugt, über dich zu urteilen“, sagt er – und noch einmal brandet kräftiger Applaus auf. Wenn es nach den „RotFuchs“-Leuten ginge, wäre Egon Krenz wohl heute ihr Staatsoberhaupt.
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