Vor 40 Jahren
Hans Heinz Holz zum Tod Ernst Blochs
Ernst Bloch lebt nicht mehr. Zweiundneunzigjährig ist er (am 4. 8. 1977) gleichsam weggeglitten, eine Herzschwäche, ohne Krankheit, noch (oder schon wieder) an der Arbeit, nachdem er vor einem halben Jahr den letzten Band der Werkausgabe abgeschlossen hatte. Tags zuvor hatte er sein Votum gegen die Neutronenbombe abgegeben, ein letztes Wort, das mit seinem Leben zusammenstimmt.
Bilder tauchen auf: An einem eiskalten Tag Ende Oktober 1966 sammeln sich die Gegner der Notstandsgesetzgebung zu einer machtvollen Kundgebung auf dem Frankfurter Römerberg. Frierend im schweren Wintermantel, in einen dicken Wollschal gehüllt, der einundachtzigjährige Bloch. Dunkel und von der Kälte leicht belegt klingt seine Stimme über den weiten Platz: „Wir kommen zusammen, um den Anfängen zu wehren.“ Und er schließt: „Die Spuren schrecken. Die alten Herren mit ihrem Artikel 48 haben unsere Vergangenheit verspielt, die neuen Herren mit ihrem Notstandsunrecht sollen nicht unsere Zukunft verspielen!“
Das war der gleiche kompromißlose Kampfgeist des Mannes, der fünfzig Jahre vorher gegen die Kriegspolitik der preußisch-alldeutschen Junker und Schlotbarone schrieb, der dann zu den führenden Köpfen des Widerstands gegen die Nazis gehörte.
Zehn Jahre vor Frankfurt, 1956: Die Sektion Philosophie an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin veranstaltete eine Tagung über den Begriff der Freiheit im Lichte des wissenschaftlichen Sozialismus. Bloch eröffnete mit einem leidenschaftlich engagierten Vortrag, der die an Einsicht und Wahrheit gebundene echte Freiheit gegen den Mißbrauch des Freiheitsbegriffs durch die bürgerliche Ideologie herausarbeitete: „Zweifellos wurde dieser von Hause aus so edle und hohe Begriff öfter verunreinigt. Ja, Menschen konnten und können in seinem Namen so verwirrt sein, daß sie sich den dauernden Zustand von Herr und Knecht als freie Welt vormachen lassen.“
Wiederum acht Jahre zuvor: Bloch war gerade aus den USA, wohin ihn die Flucht vor den Nazis über Zürich, Wien, Prag und Paris ge-führt hatte, nach Leipzig gekommen, um den Lehrstuhl für Philosophie zu übernehmen. Vierundsechzigjährig, wenn andere sich emeritieren lassen, begann er mit dem Neuaufbau. Als junger Student auf einer Reise in der DDR weilend, schrieb ich ihm, schickte ihm einen Aufsatz, bekam postwendend Antwort mit Randbemerkungen zum Manuskript und einer Einladung. Ich eilte von Berlin nach Leipzig, begierig, den Autor von „Freiheit und Ordnung“ kennenzulernen, das, in einem Emigrantenverlag erschienen, mir irgendwie in die Hand gekommen war und mich fasziniert hatte.
Ich vergesse den Augenblick nicht: Bloch, in einer weiten, flauschigen gelben Hausjacke mit großen Karos (noch amerikanischen Ursprungs) öffnet die Tür, steckt beide Hände aus und sagt auf Französisch: „Soyez le bienvenu.“ Ein Gespräch folgte, das vom frühen Nachmittag bis in die Dämmerung des nächsten Morgens dauerte. Der Zauber eines großen Erzählers umfing mich, die Weite eines bisher ungeahnten philosophischen Horizonts tat sich auf, die Stärke der Persönlichkeit schlug mich in Bann. Staunend erlebte ich einen Propheten und Magier, einen Dichter und Metaphysiker.
So begann eine Freundschaft, ohne die ich unsagbar viel ärmer wäre. Und ich meine auch, ohne Bloch wäre unsere Zeit ärmer – ohne ihn, der den unendlichen Reichtum einer Welt entdeckte, die nicht einfach ist, wie sie geworden ist, sondern deren Wesentlichstes erst möglich ist und die einmal gelingen soll.
Schon in seinem ersten ekstatisch-religions-philosophischen Entwurf, dem 1918 erschienenen „Geist der Utopie“, war Blochs weitere Entwicklung angelegt. Wer so wie er die Perspektive des Gelungenseins nicht in ein Reich Gottes, sondern in diese Welt verlegte, mußte die religiöse Erwartung in philosophische Gewißheit und politische Tätigkeit übertragen. Er mußte eine Theorie der innerweltlichen Möglichkeiten ausarbeiten und sich engagieren in der Praxis ihrer Verwirklichung. Das Modell für diese Einheit von Theorie und Praxis fand Bloch bei Marx, Engels und Lenin. Der Weg zum Marxismus war ihm durch seinen eigenen Denkansatz vorgezeichnet, damit auch seine Position in der politischen Konstellation der Zeit: Der Marxist, gerade der mit dem hegelschen Blick auf das Ganze, konnte nur Kommunist sein.
So führt vom religionsphilosophischen „Geist der Utopie“ zum geschichtsphilosophischen Kommunismus eine persönliche Konsequenz Blochs. Wenn die Hegelsche Beschreibung des gesellschaftlichen Verhältnisses von Herrschaft und Knechtschaft die Wurzeln der Entfremdung trifft, wenn die Marxsche Konkretisierung dieses Verhältnisses als Klassenstruktur der Gesellschaft richtig ist und damit die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen als Grund der Unfreiheit und unvollkommener Selbstverwirklichung namhaft gemacht wird – dann ist die Schlußfolgerung unausweichlich, daß die erstrebte Identität des Menschen mit sich selbst nur unter den Bedingungen der klassenlosen Gesellschaft hergestellt werden kann. Die geschichtliche Erfahrung der zwanziger Jahre zeigte, daß in der Situation des verschärften Klassenkampfes die politischen Gegensätze in zwei (und nur zwei) Lager auseinandertreten, daß, wie Lenin gelehrt hatte, der „dritte Weg“ unmöglich ist. Die Parteinahme des humanistischen Philosophen, der mit seinem Ziel in Übereinstimmung bleiben wollte, mußte also für den Kommunismus erfolgen; ein „mittlerer“ bürgerlicher Humanismus, der die revolutionäre Umgestaltung der Gesellschaft ablehnte, mußte (wenn auch ungewollt) dem Faschismus in die Hände arbeiten (und daß dem wirklich so war, hat das Ende der Weimarer Demokratie gezeigt). Bloch blieb bis zu seinem Tode mit unerschütterlichem Herzen dem Kommunismus verbunden – auch dann, als theoretische Auseinandersetzungen in schwieriger politischer Situation ihn 1956 in Konflikt mit Partei und Staat der DDR brachten und er 1961 in die Bundesrepublik übersiedelte, um in Tübingen mit 76 Jahren noch einmal eine neue Lehrstätte zu suchen. Kämpferisch stets; doch einer Politik des individualistischen Abenteuers ebenso klar widerstehend. Ihn heute für die Ideologie irgendwelcher „neuen Linken“ in Anspruch nehmen zu wollen, findet in seinem Werk keine Stütze.
Den Ertrag seines Denkens für die marxistische Philosophie zu bestimmen, ist dieser Augenblick zu früh. Ich weiß nur: Ernst Bloch wird uns fehlen.
DVZ, Nr. 32/1977
Eine weitere Arbeit von Hans Heinz Holz zum geschichtlichen Ort Blochs bringen wir in unserer nächsten Ausgabe.
Den Anfängen wehren!
„Wir kommen zusammen, um den Anfängen zu wehren, denn Absicht und Tenor der Notstandsgesetze sind so klar, auch wenn die Ausführungsbestimmungen noch ,geheime Reichssache‘ sind.“ Nach einem Rückblick auf den verhängnisvollen Notverordnungsparagraphen Art. 48 der Weimarer Verfassung warnte er davor, daß in einer echten Krise bei einem überwiegend unorientierten Konsumvolk der Rechtsextremismus wieder Boden gewinnen könnte: „Die wirkliche Macht“, sagte er, „könnte schließlich merken, daß mit Neu-Faschisten im Bund noch solidere Geschäfte zu machen wären. … Hierzulande war noch kein Ausnahmegesetz gegen radikales Rechts gerichtet, sondern immer nur gegen Links. Und je diskreditierter die parlamentarische Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft wird, desto leichter kann deren Selbstausschaltung in das Land führen, woraus noch kein Demokrat lebendig und unbeschädigt zurückkam.“
Ernst Bloch auf einer Kundgebung gegen die Notstandsgesetzgebung,
Frankfurt a. M., 30. Oktober 1967
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