„Haste was, dann biste was“?
Über dem Arbeitsplatz meines alten Schuhmachermeisters hängt ein Schild mit folgendem Text: „Kannste was, dann haste was. Haste was, dann biste was!“ Das Schild ist schon recht verstaubt – vor allem vom Text her. Man sieht ihm an, daß es schon Generationen überdauert hat. Es stammt ganz sicher aus jener Zeit der Gründerjahre, in denen die kapitalistische Klasse erbarmungslos Jagd auf Profit, Geld und Besitz machte.
Die Bourgeoisie hat, wie Marx und Engels schon im Kommunistischen Manifest schrieben, „kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ,bare Zahlung‘ “. Die persönliche Würde des Menschen ist „in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt“. Wie wahr und für unsere gesellschaftlichen Verhältnisse geradezu unheimlich zutreffend sind diese Worte!
Karikatur: Heinz Zill
Ihre aus dem Profit- und Machtkampf entstandene Lebensphilosophie versucht die Kapitalistenklasse auch zum ausschließlichen Sinn des Lebens für alle Menschen zu erheben. Der Mensch soll in der imperialistischen Gesellschaft zum vereinzelten, egoistischen Wesen manipuliert werden. Etwa unter dem Motto: Jeder ist sich selbst der nächste! Wer hat die stärksten Ellbogen? Wem gelingt es am besten in „eiskalter egoistischer Berechnung“, sich den besten Job zu verschaffen?
Treffen wir nicht täglich auf solche und ähnliche Auffassungen, ausgesprochen und auch unausgesprochen?
Menschen, die lieber auf das Denken als auf das Auto verzichten – eine solche Masse moralisch und geistig verkrüppelter menschlicher Wesen braucht das spätkapitalistische System. Denn mit einer „Haste was, dann biste was“-Lebensmaxime werden Monopole, ihre Macht und ihre maßlos steigen den Profite nicht gefährdet. Eine solche von den imperialistischen Meinungsmachern suggerierte Auffassung trägt vielmehr dazu bei, die Hirne zu vernebeln, sie anpassungsfähig an die Bedürfnisse des Kapitals zu machen und schließlich die schaffenden Menschen vom Kampf um ihre echten Interessen gegen die überlebte imperialistische Gesellschaft abzuhalten.
Die Wahrheit des Lebens ist die, und sie ist geschichtsnotorisch: Alle Errungenschaften der werktätigen schaffenden Menschen, politischer und materieller Art, wurden nicht durch die Befolgung bürgerlich-mystischer Lebensweisheiten erworben, sondern nur im gemeinsamen Kampf aller Ausgebeuteten, in harten Klassenauseinandersetzungen mit der Unterdrücker-Klasse errungen – damals wie heute.
Mein alter Schuhmacher ist sich gewiß nicht bewußt, welch’ inhumane Aussage er mit seinem Sprüchlein in seiner kleinen Werkstatt vertritt. Noch weniger weiß er vielleicht, daß in einem Teil der Welt seine fragwürdige Lebensweisheit eine vom Worttext geringe, aber von der Aussage her gewaltige Umstellung erfahren hat. „Wer etwas kann, der ist auch etwas!“ So etwa läßt sich das Ansehen der Persönlichkeit beschreiben, wie sie in den sozialistischen Ländern gesehen und gewertet wird. Nicht der gilt etwas, der sich auf „Statussymbole“ wie Haus, Grundstück, finanziellen Reichtum stützt, sondern jener, der sich vom Ungelernten zum Facharbeiter, vom Facharbeiter zum Meister, vom Meister zum Ingenieur usw. qualifiziert. Der Sozialismus gibt ihm dazu alle Möglichkeiten. Mit der Beseitigung der politischen und ökonomischen Macht der Monopole wurden auch die Grundlagen für bürgerlich inhumane Lebensweisheiten aller Schattierungen entzogen. Und hinzufügen ließe sich: Die Industrie- und Geistesarbeiter im Sozialismus, sie „haben tatsächlich was“, was ihrer Stellung und Würde entspricht – die Macht nämlich. Und sie sind auch „was“: Herren in ihrem Staat!
Der Sozialismus ist weit davon entfernt, der Entsagung irdischer Güter das Wort zu reden. Wer viel leistet für die Gesellschaft, der soll auch seinen entsprechenden Anteil haben. Aber materieller Reichtum ist im Sozialismus nicht mehr Selbstzweck. An erster Stelle – immer wieder als der Sinn allen Wirkens – steht der Mensch und sein Wohl! So sind alle geschaffenen Werte allen zugängig – entsprechend dem Anteil, den der einzelne der ganzen Gesellschaft zu geben bereit und in der Lage ist. Der alte Schuhmacher ist – wenn ich mir so sein Ladeninneres betrachte – keiner von den „großen Haien“. Aber er unterliegt noch der weitverbreiteten und von den Herrschenden gewährten Vorstellung, daß man „haben“ muß, um „etwas zu sein“. Seine Nachfahren werden eines Tages das Schild abnehmen und es kopfschüttelnd betrachten. Das wird dann sein, wenn sich auch in unserer Stadt (Westberlin, d. Red.) die Menschen infolge veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse von Sklaven der Dinge zu Herren über die Dinge erheben werden.
Aus: „Die Wahrheit“, Westberlin, 21./22. August 1971
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