Was ein Schwerbehinderter in der DDR und in der BRD erlebte
Hier elf, dort 852 Bewerbungen
In der Märzausgabe des RF fragte Johann Weber aus Ruhstorf: Hatten alle schwerbehinderten DDR-Bürger einen Arbeitsplatz? Ich möchte dem langjährigen niederbayerischen Personalratsmitglied und SPD-Genossen meine Erfahrungen als Schwerbehinderter in beiden deutschen Staaten kurz schildern, natürlich auch den Lesern des RF.
Mein beruflicher Werdegang umfaßt 23 Jahre in der DDR und etwa die gleiche Zeitspanne ab 1990 in der BRD. Daher kann ich beide Abschnitte gut miteinander vergleichen. Ich bin in Thüringen geboren und heute 64. Während meiner Schulzeit hatte ich einen Unfall, in dessen Folge meine Bewegungsfähigkeit linksseitig erheblich eingeschränkt ist. Ich bin zu 90 % schwerbehindert. Dennoch habe ich die DDR-Schule ohne Ausfall absolvieren und die Berufsausbildung aufnehmen können. Nach dem Lehrabschluß erhielt ich in meinem Ausbildungsbetrieb problemlos einen Arbeitsplatz. Man gab mir die Möglichkeit zu einem Studium und anschließender fachlicher Weiterentwicklung. Für Lehre, Direktstudium, Fernstudium, zwei Praktika und fünf Arbeitsstellen habe ich insgesamt 11 Bewerbungen geschrieben.
Nach Art. 20 der Verfassung der DDR besaßen alle Bürger die gleichen Grundrechte. Artikel 24 regelte das Recht auf Arbeit, Artikel 25 das Recht auf Bildung. Im Arbeitsgesetzbuch der DDR war nach § 5 festgelegt worden: „… Werktätige im höheren Lebensalter und Werktätige, deren Arbeitsfähigkeit gemindert ist, werden bei der Aufnahme und Ausübung einer Tätigkeit besonders gefördert und geschützt.“
Nach der „Wiedervereinigung“ habe ich dann ganz andere Erfahrungen machen müssen. Für zwei Umschulungen und ein berufsbegleitendes Fernstudium – die DDR-Abschlüsse waren offenbar nicht marktgerecht – sowie insgesamt 12 Beschäftigungen habe ich 852 Bewerbungen (!) schreiben und 103 Vorstellungsgespräche führen müssen. Ich erhielt 763 Absagen. Und das alles trotz des Grundgesetz-Artikels 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ und der Ergänzung zu Art. 3, Abs. 3: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
In den vergangenen 20 Jahren war ich überwiegend in der Behindertenbetreuung und Arbeitsmarktpolitik beschäftigt. Während meiner letzten Tätigkeit als Integrationsberater bei einem sozialen Träger erkrankte ich im Januar 2013 an Lungenentzündung, worauf ich umgehend meine Kündigung erhielt. Nun bin ich Altersrentner ohne Abzüge auf der Basis meiner Schwerbehinderung. Seit September 2013 verdiene als JobCoach zu der Rente etwas hinzu, was bei der oben beschriebenen Erwerbsbiographie ab Oktober 1990 sicher nachvollziehbar ist. Durch die Vielzahl und die Kurzfristigkeit der jeweiligen Beschäftigungen konnte keine steigende Kontinuität beim Rentenbeitrag gesichert werden.
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