Zur Geschichte des demokratischen Rundfunks
„Hier spricht Berlin!“
Fünf Tage nach der faschistischen Kapitulation, gegen 20 Uhr. Eine neue Stimme im Äther läßt aufhorchen: „Hier spricht Berlin! Hier spricht Berlin auf Wellenlänge 356 Meter.“
Unerwartet und kaum glaubhaft für viele, daß diese mutgebenden Worte aus dem noch brennenden Trümmermeer Berlins kommen, von dem man im Lande munkelt, es berge kein Leben mehr …
Am Morgen dieses 13. Mai 1945, an dem erst das letzte Sprachrohr des verlogenen Nazirundfunks in Flensburg zum Schweigen gebracht wird, war ich mit einer kleinen Gruppe deutscher Antifaschisten am Tegeler Sender eingetroffen. Unser Ziel: mit Genehmigung und Unterstützung des sowjetischen Kommandos den Rundfunkbetrieb wieder in Gang zu bringen und die erste Sendung eines neuen, im Dienste des Wiederaufbaus und der demokratischen Erneuerung Deutschlands stehenden Rundfunks vorzubereiten.
Jeder gab sein Bestes. Allen Schwierigkeiten und Komplikationen zum Trotz: Noch am Abend des gleichen Tages ging in der Zeit von 20.00 bis 21.10 Uhr die erste, von deutschen Antifaschisten gestaltete Nachrichten- und Musiksendung unter behelfsmäßigen Bedingungen über den Äther. Diese Geburtsstunde des Deutschen Demokratischen Rundfunks werden die Beteiligten nicht so schnell vergessen. Der noch die Brandenburger Zuchthauskluft tragende Kommunist Artur Mannbar ebensowenig wie ich, das Mitglied des Nationalkomitees „Freies Deutschland“, wie Erwin Wilke, der Ingenieur, wie Hans Mahle, Fritz Erpenbeck, Otto Fischer …
Der 13. Mai 1945 bedeutet ln der Geschichte des deutschen Rundfunks einen echten Wendepunkt und Neubeginn. Um die Bedeutung dieses historischen Ereignisses richtig verstehen und würdigen zu können, muß man sich die damalige äußerst schwierige, schier hoffnungslos erscheinende Situation vergegenwärtigen.
Als Mitautor, Ansager und Sprecher der ersten Sendung des Berliner Rundfunks war ich nur wenige Tage zuvor mit einer Gruppe von Antifaschisten, die während des letzten Kriegsjahres als Frontbeauftragte des Nationalkomitees auch das Mikrofon zum Nutzen des deutschen Volkes zu handhaben gelernt hatten, nach Berlin gekommen. Wer diese zerstörte, aus tausend Wunden blutende Stadt unmittelbar nach Kriegsende mit eigenen Augen gesehen, wer mit ihren Menschen gesprochen hat, die eben erst aus Bombenkellern, Bunkern und U-Bahnhöfen hervorgekommen waren und sich in großer Zahl buchstäblich vor das Nichts gestellt sahen, der wird niemals die Bilder der Verwüstung, der äußeren wie der inneren, vergessen können, die sich ihm darboten.
Ruinen und Trümmer, wohin das Auge blickte; stillstehende Fabriken und Betriebe; eine Millionenstadt fast ohne Lebensmittelvorräte, ohne normale Wasserversorgung, ohne die so lebenswichtigen Verkehrs- und Transportmittel, weithin ohne Licht und Gas; die Menschen entnervt und erschöpft, verzweifelt und hungrig – das war die katastrophale Situation, in der sich Berlin in den Maitagen 1945 nach zwölfjähriger faschistischer Gewaltherrschaft und demagogischer Verhetzung befand. Und Berlin war nur Teil eines größeren Ganzen, das nicht viel weniger zerstört und verwüstet darniederlag.
Erste zentrale deutsche Institution
Der Berliner Rundfunk wurde von einem kleinen Kollektiv deutscher Antifaschisten ins Leben gerufen, um die Menschen wiederaufzurichten, in ihnen neuen Mut zum Leben und neues Vertrauen in ihre eigenen Kräfte zu wecken. Er wollte ihnen Wege und Möglichkeiten weisen, wie sie sich durch die vereinte Anstrengung ihrer physischen und geistigen Kräfte aus Not und Chaos herausarbeiten und zum Aufbau eines neuen und besseren Lebens befähigen können.
Dieser klapprige PKW beförderte
ab 15. Mai 1945 die Bänder
vom Funkhaus Masurenallee
zur zerstörten Charlottenburger
Schloßbrücke, wo sie mit einem
Kahn übergesetzt und dann
von einem Radfahrer zum Sender
Tegel gebracht wurden,
bis sowjetische Freunde
eine provisorische
Feldpostleitung legten.
Der Berliner Rundfunk begriff und betätigte sich von seinen ersten Anfängen an unmißverständlich als ein Instrument und Organ der antifaschistisch-demokratischen Kräfte, die unter Führung der KPD sofort nach Beendigung der Kampfhandlungen damit begannen hatten, in den vom Faschismus befreiten Städten und Dörfern den Wiederaufbau zu organisieren, die Bevölkerung mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen und neue, demokratische Verwaltungen aufzubauen. Hierbei fanden die „Aktivisten der ersten Stunde“ jede nur mögliche materielle und ideelle Hilfe durch die sowjetische Besatzungsmacht. Sie war es auch, die sogleich nach Kriegsende dem Berliner Rundfunk Techniker und technische Mittel zur Verfügung stellte, um die beschädigten Sendeanlagen so rasch wie möglich wieder in Betrieb nehmen zu können. Ohne diese Hilfe wäre es nicht möglich gewesen, schon am 13. Mai die erste Sendung auszustrahlen und nur eine Woche später, ab 20. Mai, als erste deutsche Sendestation nach 1945 bereits ein volles Programm von täglich 19 Stunden zu gestalten. Wie glücklich waren wir zum Beispiel über die von sowjetischen Genossen durch die Trümmerberge Charlottenburgs, über die Spree und durch die Jungpfernheide gezogene provisorische Feldtelefonleitung, die den stafettenähnlichen Kurierdienst, bestehend aus einem alten Auto, einem Spreekahn und einem Fahrrad, zwischen dem notdürftig instandgesetzten Funkhaus Masurenallee und dem Sender Tegel ablöste.
Bekanntlich gab es in den ganzen ersten Wochen nach der Befreiung vom Faschismus noch keine zentralen deutschen Verwaltungen und Institutionen, die der Bevölkerung Berlins und der damaligen sowjetischen Besatzungszone weg- und richtungweisende Leitlinien, Anleitungen oder auch organisatorische Hilfe für die Überwindung von Not und Chaos und für den wirtschaftlichen, politischen und geistig-kulturellen Neuaufbau hätten geben können. Der Berliner Rundfunk war zunächst die einzige zentrale deutsche Einrichtung, die als Massenmedium die Möglichkeit hatte, die Bevölkerung in immer größerer Zahl zu erreichen und anzusprechen und ihr bewußtzumachen, was hier und jetzt getan werden muß.
Doch auf welche Grundlagen, auf welche Dokumente konnten wir uns bei dieser Arbeit stützen? Es gab ja noch keine zentrale staatliche Organisation, noch keine antifaschistischen Parteien und keine politischen Programme, die die gegebene Situation widerspiegelten und Wege in die Zukunft wiesen! War somit nicht jenes kleine Kollektiv, das am 13. Mai den Berliner Rundfunk ins Leben gerufen hatte und schon bald danach auch leiten, aufbauen und ausbauen mußte, allein auf sich selbst gestellt? Keineswegs! Alle, die ihm angehörten, hatten sich ausnahmslos schon im antifaschistischen Widerstandskampf bewährt; sie kamen aus der KPD als der konsequentesten Kraft dieses Kampfes oder aus dem Nationalkomitee und der Bewegung „Freies Deutschland“.
Welch eine Trophäe!
Der Berliner Rundfunk
übergibt den Siegern
des ersten Straßenrennens
im August 1945 in Berlin
zwei Radioapparate.
Die KPD, die unter allen anderen früheren Parteien als einzige im Kampf gegen den Faschismus von Anfang bis Ende konsequent und standhaft geblieben war, hatte sich in den Jahren der Illegalität und der Emigration gründlich und allseitig auf die Aufgaben vorbereitet, die nach der Befreiung Deutschlands vom Faschismus zu bewältigen waren. Auf ihren Konferenzen in Brüssel und Bern war der Weg gewiesen worden, um Faschismus und Militarismus mit ihren sozialökonomischen Wurzeln auszurotten. Die KPD hatte, wie es in der Chronik zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung heißt, „das Programm einer neuen, wahrhaft demokratischen deutschen Republik entwickelt. Das ZK der KPD und unter seinem Einfluß das NKFD hatten für alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens konstruktive Pläne für die demokratische Erneuerung Deutschlands ausgearbeitet.“
Rasche Programmerweiterung
Damit war auch für den Berliner Rundfunk eine zuverlässige Grundlage gegeben, auf der er seine Tätigkeit aufbauen und durchführen konnte. Beschränkten sich die Sendungen während der ersten Tage im wesentlichen auf die Ausstrahlung von Nachrichten, Bekanntmachungen, lokalen Informationen für die Berliner Bevölkerung und musikalischen Darbietungen, so erweiterte sich das Programm sehr rasch, nachdem wir am 15. Mai vom Tegeler Sendehaus in das Rundfunkgebäude in der Masurenallee umgezogen waren.
Hierzu nur einige Daten: Am 18. Mai fand bereits im großen Sendesaal des Berliner Funkhauses das erste öffentliche Konzert statt, gestaltet unter unvorstellbaren Schwierigkeiten von Musikern verschiedener Klangkörper. Die IX. Sinfonie Ludwig van Beethovens wurde für die bis auf die Straße stehenden Menschen zu einem unvergeßlichen Erlebnis, aus dem sie Mut und Kraft schöpften.
Am gleichen Tage wurde die populäre Sendefolge „Was wir wissen müssen“ neben den Nachrichtensendungen ins Programm aufgenommen. Am 20. Mai sprach Michael Storm-Wolf den ersten deutschen Kommentar nach dem Kriege (erst Monate später folgte der erste Kommentar in einem westdeutschen Sender). Am 23. Mai machte der Kinderfunk mit etwa 30 Kindern die ersten Aufnahmen für die Sendereihe „Sonntagskinder“ des Berliner Rundfunks. Am 25. Mai folgte die erste Reportagesendung „Pulsschlag Berlin“, die später in „Pulsschlag der Zeit“ umbenannt wurde.
Nachdem am 10. Juni durch den Befehl Nr. 2 der SMAD die Bildung und die Tätigkeit antifaschistisch-demokratischer Parteien und freier Gewerkschaften zugelassen worden war, wurde am 19. Juni die Sendereihe „Tribüne der Demokratie“ eingerichtet. Ende Juni bildete sich die Abteilung „Künstlerisches Wort“. Um dieselbe Zeit nahm das Radio-Berlin-Tanzorchester (RBT) seine Proben auf. Weitere Abteilungen wie Frauenfunk, Schulfunk, Jugendfunk und andere wurden ebenfalls noch im Sommer und Herbst 1945 geschaffen.
Allein schon diese keineswegs vollständige Aufzählung läßt erkennen, wie rasch sich die Tätigkeit des Berliner Rundfunks in relativ kurzer Zeit auf die verschiedensten Bereiche des politischen, künstlerischen, geistig-kulturellen und erzieherischen Lebens ausdehnte. Mit der Aufnahme der Arbeit der Landessender Leipzig, Dresden und Schwerin sowie der Eröffnung einer Langwellenfrequenz vergrößerte sich auch der angemeldete Hörerkreis, der sich am Jahresende der 1,5-Millionen-Grenze näherte.
Diese schnelle und vielseitige Entwicklung war einfach notwendig, wenn der Berliner Rundfunk die sich schon bald beschleunigenden Veränderungen und Entwicklungen im gesellschaftlichen Leben, in das er ja mitten hineingestellt und von dem er selbst ein Teil war, nicht bloß passiv widerspiegeln und registrieren wollte. Entsprechend seiner ureigensten Bestimmung als aktive, richtungweisende, vorwärtstreibende Kraft mußte er auf alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens einwirken. Das beste Beispiel lieferte wohl die im September beginnende erste große Solidaritätsaktion „Rettet die Kinder!“ gemeinsam mit dem Hauptausschuß „Opfer des Faschismus“.
Die Mitarbeiter des Berliner Rundfunks marschieren zum 1. Mai 1946 auf, dem ersten nach der Befreiung.
Der Berliner Rundfunk hat sich schon in den ersten Monaten seines Wirkens als eine solche aktive Kraft erwiesen. Das wurde nicht im Selbstlauf erreicht, sondern in geduldiger Diskussion mit irregeleiteten Kollegen, aber auch in harter Auseinandersetzung mit Feinden der antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung, die in dem sich vergrößernden Rundfunkkollektiv entlarvt wurden. Zumeist fanden sie dann bereitwillige Aufnahme in den Funkhäusern der westlichen Besatzungszonen.
Die Leistung des demokratischen Rundfunks ist letztlich der Tatsache zu danken, daß sich die Mehrheit seiner verantwortlichen Mitarbeiter in ihren unterschiedlichen, aber doch für das gemeinsame große Ziel der antifaschistisch-demokratischen Umgestaltung zusammenwirkenden Tätigkeitsgebieten jederzeit auf die selbstlose Hilfe der sowjetischen Kontrolloffiziere, die zugleich unsere Genossen und Freunde waren, stützen konnten. Bereits am 21. Dezember 1945 wurde das gesamte Rundfunkwesen auf Beschluß der Sowjetischen Militäradministration der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung unterstellt.
Ausschlaggebend war aber auch die Tatsache, daß die Rundfunkpioniere sich von Anfang an ganz bewußt an der fortschrittlichsten Klasse der Gesellschaft, an der Arbeiterklasse, orientierten. Nur sie war unter der Führung ihrer Partei dazu befähigt, alle antifaschistischen Kräfte um sich zusammenzuschließen und mit diesen gemeinsam den konsequenten Kampf gegen Faschismus und Reaktion, für Demokratie und Fortschritt zu führen.
Mit diesem Kampf hat sich der Berliner Rundfunk in seiner gesamten Tätigkeit solidarisiert und identifiziert. Er hat die Einheitsbestrebungen der Arbeiterklasse aktiv unterstützt, das Programm der fortschrittlichen Kräfte zum demokratischen Neuaufbau in alle Schichten der Bevölkerung getragen, zur Überwindung der faschistischen Ideologie und zur Erziehung der Menschen im Geiste des Humanismus, des Friedens und der Völkerfreundschaft einen nicht zu unterschätzenden Beitrag geleistet.
Aus: „FF dabei“, Nr. 32/1973
Nachricht 519 von 2043