RotFuchs 198 – Juli 2014

Vor 20 Jahren flossen in Rwanda Ströme von Blut

Hintergründe eines Genozids

RotFuchs-Redaktion

Ein territorial kleines Land in Afrika war 1994 der Schauplatz eines der schrecklichsten Verbrechen des 20. Jahrhunderts. Innerhalb von nur drei Monaten wurden in Rwanda, das damals 7 Millionen Landesbürger zählte, zwischen 800 000 und einer Million Menschen regelrecht abgeschlachtet.

Rwanda war von 1916 bis 1962 eine koloniale Besitzung Belgiens und galt auch während der darauf folgenden drei Jahrzehnte als „privilegierter Partner“ der offiziell vom schwarzen Kontinent verdrängten früheren Kolonialmacht. Wie in Zaire (der heutigen Demokratischen Republik Kongo), wo die USA inzwischen an die Stelle der Platzhirsche des belgischen Kolonialismus getreten waren, hatte Brüssel seinen historisch gewachsenen Einfluß auch in Rwanda nicht gänzlich verloren. 1984 notierte sein einstiger Vizegouverneur Jean-Paul Harroy: „Im unabhängigen Rwanda haben die beiden aufeinander folgenden Regierungen den rechten Weg fortgesetzt, den die Belgier vor 25 Jahren für sie einrichteten.“ So wurden zwischen 1962 und 1990 sämtliche hochrangigen Offiziere der rwandischen Armee nach wie vor in Belgien ausgebildet. Unter deren Augen flossen dann 1994 Ströme von Blut. In diesem Zusammenhang sollte man auch nicht die Rolle belgischer Missionare verkennen, die nahezu sämtliche Entwicklungsprojekte im Lande leiteten. Während Idealisten unter ihnen im guten Glauben gehandelt haben mögen, trugen andere maßgeblich dazu bei, daß sich der Genozidgedanke verfestigen konnte.

Als dessen hauptsächliche Triebkraft ist der Rassismus zu betrachten, der die Tutsi-Minderheit und die Hutu-Mehrheit des Landes zu Todfeinden machte. Die Verteidiger des Kolonialismus suchten den Völkermord als Folge eines „jahrhundertealten Hasses zwischen beiden Volksgruppen“ zu erklären, der nichts mit dessen auf „Teile und herrsche“ begründeter Politik in Afrika zu tun habe. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Schon im Mittelalter hatte es kleine Könige beider Völker gegeben. Kriege zwischen ihnen verliefen mit unterschiedlichen Ergebnissen. Ab 1736 gelang es einer Tutsi-Dynastie, sich Schritt für Schritt des gesamten Territoriums von Rwanda zu bemächtigen. Feudale Herrscher, die sich ihnen widersetzten, wurden samt Anhang massakriert, wobei die ethnische Herkunft keine Rolle spielte. Zwischen beiden Völkerschaften kam es sogar zur Integration. Von den 12 ersten Tutsi-Königen Rwandas waren neun mit Hutu-Frauen verheiratet.

Im Zuge der Kolonialisierung durch europäische Mächte wurden rassistische Theorien und Praktiken dann bewußt zur Spaltung der afrikanischen Völker in Umlauf gebracht. Die deutschen Kolonialherren, die Rwanda als erste in Besitz nahmen, entwickelten die Ideologie von zwei dortigen Rassen: den Hutu und den Tutsi. Nach ihrer Interpretation galten die zuerst genannten als Ureinwohner Rwandas, während die zweiten „von irgendwo aus dem Norden“ eingewandert sein sollten. Eine solche „Invasion“ hatte es indes nie gegeben. Doch als belgische Kolonialisten 1916 an die Stelle der Deutschen traten, bedienten sie sich gezielt dieser ahistorischen These. Nach kurzem Zögern, welche der beiden „Rassen“ sie unterstützen sollten, erklärten sie unter dem Einfluß der Kirche nunmehr die Tutsi zur „höheren Ethnie“. Die Zusammengehörigkeit der beiden Volksgruppen, die jahrhundertelang funktioniert hatte, wurde willkürlich aufgehoben. Menschen, die keinerlei Unterschiede zwischen sich festgestellt hatten, teilte man so in zwei Lager ein.

Reaktionär-rassistische Mythen griffen und wurden zu einer entscheidenden Stütze des Kolonialsystems. Brüssel sorgte in Rwanda für eine regelrechte Tutsifizierung. Der belgische Bischof Monsignore Classe bezeichnete die Tutsi als „geborene Chefs“. Eine Oberschule, die geeigneten Tutsi-Nachwuchs heranbildete, erhielt den Namen der belgischen Königin Astrid.

All das konnte indes nicht verhindern, daß der Antikolonialismus im Laufe der Jahrzehnte gerade auch unter der jungen Tutsi-Intelligenz eine besondere Ausprägung erfuhr. In gleichem Maße wuchs unter den Hutu-Massen der Haß auf die privilegierten „Tutsi-Feudalen“.

So formierte sich eine Hutu-Elite, von der eine Anti-Tutsi-Ideologie entwickelt wurde. Während eine Benennung des Kolonialismus als der wahren Ursache der Bevölkerungsspaltung in Rwanda vermieden wurde, vollzog sie mit belgischer Unterstützung eine „antifeudale Revolution zur Beseitigung der Tutsi-Herrschaft“. Am 4. November 1959 rückten 6000 Soldaten der von Brüssel formierten Streitkräfte Kongos unter dem Befehl des belgischen Obersten Guy Longiest zur Unterstützung der „Revolution“ gegen die Tutsi in Rwanda ein. Aus der Propagierung angeblicher Überlegenheit wurde buchstäblich über Nacht der Kampf gegen die Tutsi-Unterdrücker. Diese Ideologie war der Nährboden für einen fanatischen Haß, der vor Massenmorden an Frauen und Kindern nicht Halt machen sollte.

Anfangs unterstützten die USA aus taktischen Gründen den antikolonialen Befreiungskampf in Afrika. Ihr Ziel war es, dort den Platz der vertriebenen europäischen Mächte einzunehmen. Nach der Proklamierung der Unabhängigkeit Kongos blieb Belgien nur noch eine drittrangige Rolle in der Region, während es Frankreich gelang, seinen ökonomischen, militärischen und kulturellen Einfluß weitgehend zu wahren. Nachdem der durch die sozialistische Gemeinschaft unterstützte Versuch einiger afrikanischer Staaten, auf dem nichtkapitalistischen Weg voranzukommen, gescheitert war, vermochte Washington seinen strategischen Einfluß auf dem schwarzen Kontinent wesentlich zu verstärken und die Hegemonie unter den imperialistischen Mächten einzufordern.

Zwischen 1983 und 1987, als die Patriotische Rwandische Front (FPR) entstand, bekleideten deren spätere Führer einflußreiche Posten in Armee und Geheimdienst Ugandas. Die FPR forderte für Hunderttausende nach 1959 ins Ausland geflohene Tutsi das Recht auf Rückkehr nach Rwanda ein. Extremistische Hutu-Elemente verkündeten daraufhin ihre Absicht, die Tutsi physisch auszurotten. Am 7. April 1994 begann der Massenmord an ihnen und gemäßigten Hutu. Obwohl sich die Clinton-Administration der USA vollkommen darüber im klaren war, daß in Rwanda ein Genozid größten Ausmaßes erfolgte, der nur an den Untaten der Hitler-Faschisten gemessen werden konnte, zögerte sie ein wirksames Eingreifen so lange hinaus, bis Ströme von Blut geflossen waren.

RF, gestützt auf die Internet-Ausgabe von „Solidaire“, Brüssel