RotFuchs 219 – April 2016

Hochachtung vor Horst Sindermann

Thomas Behlert

Als man noch – ein kleiner Gernegroß – durch die heile Welt stolperte, sich Pionier nannte, Altstoffe sammelte und für den Frieden in der Welt kämpfte, waren einem die Staatsmänner des eigenen Landes eigentlich weniger bekannt. Sie wurden zwar im Unterricht genannt, und man mußte sich wohl auch die wichtigsten Namen zumindest bis zur Leistungskontrolle merken, sah dann aber lieber zu den Lehrern auf, die einen die ganze Zeit mit ihrem Wissen erfreuten. Später, als Träger des blauen Hemdes, war man nicht sehr viel schlauer, schimpfte ab und an mal über diesen oder jenen „da oben“, kannte aber kaum einen Namen, kümmerte sich lieber um Sport und Spiel, Musik und die Liebe.

Nun sind die Jugendzeit und der dazugehörige Staat Geschichte und die gerne als „Riege alter Männer“ titulierte Führung der DDR ebenso. Da fällt einem plötzlich ein Buch von Horst Sindermann in die Hände. Man überlegt und kramt aus seinem Gedächtnis hervor, daß er zeitweilig Vorsitzender des Ministerrats war, später dann Präsident der Volkskammer. Vielleicht erinnert man sich auch noch daran, daß er die Bezeichnung „antifaschistischer Schutzwall“ kreierte und im April 1990 nach einer ungerechtfertigten Haftstrafe verstorben ist, weil darüber in jener Zeit ja oft genug etwas in der Zeitung gestanden hatte. Dem Leser wird überdies ins Gedächtnis gerufen, daß Horst Sindermann von 1954 bis 1963 Leiter der Abteilung Agitation des ZK der SED und etliche Jahre 1. Sekretär ihrer Bezirksleitung Halle war. Dort kam die Parole auf: „Sindermann macht’s möglich.“ Man erfährt, daß er aufs Gymnasium ging, gerne Theater spielte und während antifaschistischer Aktionen seine spätere Frau kennenlernte.

Man liest einfach drauflos und kann bereits nach wenigen Seiten nicht mehr von der Autobiographie „Vor Tageslicht“ lassen. Da Horst Sindermann, der 1915 in Sachsen zur Welt kam, nie mit seiner Lebensgeschichte hausieren ging, wußten viele DDR-Bürger nicht, daß dieser profilierte Politiker für seine Ideale, Ideen und Vorstellungen lange Jahre ins Gefängnis und Konzentrationslager ging.

Im Buch, zu dessen Niederschrift man ihn erst überreden mußte und für das Egon Krenz ein interessantes und lesenswertes Vorwort schrieb, schildert er sein kämpferisches Leben, sein Schicksal in den Lagern und Kerkern der Faschisten und schließlich seine Befreiung am Ende des Krieges.

Dafür, daß Sindermann für ein fortschrittliches Deutschland eintrat, als junger Mensch immer wieder gegen den aufkommenden Faschismus stritt und schließlich am antifaschistischen Widerstand als illegaler Kämpfer teilnahm, müßten Männer wie Frauen ihn noch heute bewundern. Als Mitglied des Kommunistischen Jugendverbandes und dann der KPD versuchte er, seine Mitmenschen über die von den Nazis ausgehende Gefahr aufzuklären. Eindringlich schilderte er den Kampf seiner Partei, die Verlogenheit von SPD-Führern, welche nichts mit Klassenkämpfern zu tun haben wollten und lieber in den Untergang stolperten. Hier wird einem auch klar: Viele Sozialdemokraten unserer Tage haben seitdem leider nichts dazugelernt.

Gleich am Anfang des aufwühlenden Buches beschreibt Sindermann die Stunden, in denen er vom Tod seiner Mutter erfährt. Er durfte als Häftling nicht zur Beerdigung, sondern mußte weiter schuften und Demütigungen wie Quälereien der SS erdulden. Es war grausam und unmenschlich, eben typisch faschistisch, was er erlebte und für die Nachkommen aufschrieb. Oft stößt der Leser auf prägende Sätze, welche die Situation auch im heutigen Deutschland sehr eindringlich beschreiben: „Damals wurde in mir die Überzeugung geweckt, daß die herrschenden Kapitalisten brutal, verlogen und ohne Skrupel sind.“ Würde Horst Sindermann heute noch leben, hätte sich seine Weltanschauung gewiß noch mehr verdichtet.

Während Horst Sindermann durch die Hölle der Zuchthäuser und Konzentrationslager ging, sah man den BRD-Präsidenten Heinrich Lübke (3. v. l.) als die Baugruppe Schlempp vertretender KZ-Baumeister an der Seite des Obernazis Todt und der Generalität Hitlers.

Sindermann hat in den Jahren von 1936 bis 1945 alles Schreckliche erlebt: Hunger, Ausbeutung, Qualen im KZ, die Brutalität der Gestapo, der Wachposten und Gefängniswärter. Aber ihm, der sechs Gefängnisse und Zuchthäuser sowie drei Konzentrationslager durchlief, begegneten auch Hilfsbereitschaft, Freude und Zuversicht unter den Gefangenen. Er erlebte schließlich das große Glück, als der Faschismus besiegt war und sein letztes Lager, das KZ Ebensee, befreit wurde. So kann jeder Interessierte erfahren, daß der KZ-Häftling Horst Sindermann auch hinter Gittern und Stacheldraht immer für die gerechte Sache kämpfte. Schließlich flog die illegale Lagerleitung auf. 28 Mann wurden erschossen, und weitere 100 kamen nach Mauthausen, darunter auch Sindermann.

Von Seite zu Seite steigt die Hochachtung des Lesers vor einem Autor, der trotz aller Leiden und Qualen nicht gebrochen werden konnte, der an die kommunistischen Ideen glaubte und auch noch im Gefängnis für sie eintrat.

Das Buch endet mit den ersten Schritten in Richtung neue Zeit, die Sindermann ab 1945 als Chefredakteur einer Regionalzeitung mitgestaltete.

Horst Sindermann:

Vor Tageslicht
Autobiographie

edition ost, Eulenspiegel-Verlagsgruppe, Berlin 2015
224 Seiten, ISBN 978-3360-01871-7

17,99 €