Widersprüchliche Erfahrungen
aus 16 Jahren DDR und 24 Jahren BRD
Ich bin 40 geworden
Als ich im Sommer 40 wurde, war ich überrascht, wie schnell gerade die letzte Dekade an mir vorübergeflogen ist. Vier Jahrzehnte sind nicht mehr als ein Wimpernschlag der Geschichte. Und doch kann sich in ihnen Großes ereignen. 40 Jahre – das war die Zeitspanne, welche der DDR als erstem Arbeiter-und-Bauern-Staat auf deutschem Boden zugestanden wurde. Der Aufbau einer solidarisch geprägten sozialistischen Gesellschaftsordnung wurde im Herbst 1989 jäh beendet. Kein geringer Teil der DDR-Bürger zog diesem Land eine Handvoll Bananen und scheinbar grenzenlose Reisefreiheit vor. Eine solche Massenreaktion hatte ich von gut ausgebildeten Menschen nicht erwartet.
Die kapitalistische BRD nutzte die Chance. Sie konnte ihren Macht- und Einflußbereich ohne Einsatz militärischer Mittel erweitern und sich im Osten einen verlängerten Warentisch für Gebrauchtwagen, angehäufte Klamotten und Technikprodukte schaffen. Wie von der Tarantel gestochen erstanden manche dort alles, was ihnen gerade unter die Finger kam. Dabei merkten sie gar nicht, daß sie sich an so manchen Schaufenstern auch nur die Nasen plattdrücken konnten, weil ihnen das notwendige Kleingeld fehlte.
Ich möchte meine ersten 16 Lebensjahre in der DDR nicht missen – eine Zeit, die nicht wie jetzt vom Geldbesitz geprägt war. Ich danke dem untergegangenen Land für sein Top-Bildungssystem, dessen Vorzüge ich voll und ganz genießen durfte. Im Sommer 1993 gehörte ich zum letzten Jahrgang, der nach DDR-Vorgaben das Abitur ablegte. Ich danke meinem Geburtsland, daß es uns Arbeits- und Obdachlosigkeit vorenthielt und statt dessen soziale Sicherheit garantierte. Niemand mußte Hunger leiden oder frieren, das Leben fühlte sich für mich unbeschwert an. Und ich denke an den hohen Grad des Mitspracherechts in Schulen und Betrieben. Dieser Staat war wie seine Bruderländer ein Garant für den Frieden in Europa und darüber hinaus. Die kapitalistische Welt konnte 40 Jahre lang durch das Kräftegleichgewicht im Zaum gehalten werden.
Bis 1989 waren beide deutsche Staaten durch die Mauer getrennt, die ich damals – und ich stehe heute noch dazu – keinen Augenblick in Frage gestellt habe. Ob die Durchlässigkeit dieses Bauwerks, insbesondere von Ost nach West, nicht im Laufe der Zeit hätte erhöht werden sollen, steht auf einem anderen Blatt.
Mit meiner Ansicht befand ich mich in illustrer Gesellschaft. Noch im Juli 1989 erklärte der damalige Berliner DBD-Bezirksvorsitzende Ulrich Junghanns: „Was die Mauer betrifft, so lassen wir uns nicht deren Schutzfunktion ausreden – ganz einfach, weil wir den Schutz spüren vor all dem, was hinter der Mauer an brauner Pest wuchert.“ Es dauerte gar nicht lange, und dieser wendige Mann war CDU-Wirtschaftsminister in Brandenburg.
Nachdem wir im August 1989 vom Ostseeurlaub zurückgekehrt waren, begann für mich bald das neue Schuljahr. Die Ausreise- und Fluchtwelle von DDR-Bürgern hatte zu diesem Zeitpunkt dramatische Ausmaße angenommen, die Westmedien heizten sie an. Von Partei oder Jugendverband war an der Basis fast nichts mehr zu spüren. Alle starrten nur noch wie das Kaninchen auf die Schlange.
Damals war an den Mauerfall noch nicht zu denken. Doch irgendwann trat ich als stellvertretender FDJ-Sekretär der Schule zurück, weil ich mich von den selbsternannten „Revolutionären“ nicht stürzen lassen wollte. Wie gern wüßte ich, was aus ihnen geworden ist. Doch sie erscheinen nicht mehr zu unseren Klassentreffen. Ein rundes Jahr später sollte mir das neugeschaffene Amt des Klassensprechers anvertraut werden. Doch als verkündet wurde, ich hätte die Mehrheit der Stimmen erhalten, nahm ich die Wahl nicht an. Ich konnte mir eine enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der inzwischen installierten neuen Schulleitung nicht vorstellen. Die BRD war eben nicht mein Land. Und auch heute noch fühle ich mich in ihr als Bürger zweiter Klasse.
Wenn ich nun mit 40 auf mein bisheriges Leben zurückblicke, stelle ich fest, daß ich noch nie in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis gestanden habe, sofern ich überhaupt einer Beschäftigung nachgehen durfte. Die traurige Bekanntschaft mit Arbeitslosigkeit und Hartz IV ist auch mir nicht erspart geblieben. In den Ämtern aber saß ich oft genug Leuten mit DDR-Biographie gegenüber, die so redeten, als würden sie mir die größten Wohltaten der „sozialen Marktwirtschaft“ anbieten. Fragwürdige Berufsfindungscoachings, sinnlose Bewerbungstrainings, wenig geistreiche Fortbildungen – all das mußte ich über mich ergehen lassen.
Inzwischen hat der Kapitalismus das Tempo weiter angezogen. Wen man auch fragt: Hektik, Streß und daraus resultierende Burnouts sind an der Tagesordnung. Andererseits gibt es auch Leute, die tief entspannt verlauten lassen: Ich weiß gar nicht, was ihr habt. Es ist doch alles in bester Ordnung.
Unlängst kam ein Bekannter auf mich zu, der eine neue Anstellung sucht, weil er die Zustände in seiner Firma unerträglich findet. Auf seine Bewerbungen hagelte es Absagen, sofern überhaupt eine Reaktion erfolgte. All das gehört zum Freiheitsgeschwätz, das uns ein nicht unbekannter Herr Tag für Tag um die Ohren haut. Der Ex-Pastor würde meinem Bekannten vermutlich raten, es doch mal mit Selbständigkeit zu versuchen. Dabei handelt es sich in der Regel um Luftschlösser: Schließlich können wir uns nicht alle gegenseitig Websites entwickeln, Brötchen backen oder die Haare schneiden. Denn der erfolgreiche Sprung in die vielgepriesene Selbständigkeit gelingt nur wenigen, die meisten geraten dabei endgültig in die Schuldenfalle.
Noch ein Wort zu den freien und geheimen Wahlen, für die sich unsere Protestierer im Herbst 1989 so stark machten. Die jüngsten Landtagswahlen brachten tolle Ergebnisse: Die Wahlbeteiligung betrug 49,2 % in Sachsen, 52,7 % in Thüringen und 47,9 % in Brandenburg. In den gleichgeschalteten Medien der BRD philosophierte man darüber, ob es am Wetter oder am Ende der Schulferien gelegen habe.
Mittlerweile hat auch bei uns die krasseste Dummheit Einzug gehalten: „Also von Politik habe ich gar keine Ahnung. Und was ich wählen soll, das sagt mir mein Mann“, erfuhr ich unlängst von einer noch in der DDR geborenen jungen Frau aus meinem Umfeld. Ein Herr aus dem Westen lehnte ein Gespräch mit den Worten ab: „Die ist aus dem Osten. Mit Ossis rede ich nicht.“ Wer hat nur so viel Dummheit und Haß gezüchtet?
Seit einem knappen Jahr lebe ich in Berlin. Da gibt es viel Glanz und Glamour, aber auch grassierendes Elend von erschreckendem Ausmaß. Das Heer der Bettler und Flaschensammler scheint von Monat zu Monat anzuwachsen. Und auch die Schlangen in den Jobcentern werden trotz optimistischer Prognosen keineswegs kürzer. Dennoch ist Berlin eine pulsierende Metropole, auch wenn im Osten – der einstigen DDR-Hauptstadt – viele bis 1990 produzierende Großbetriebe verschwunden sind.
Alles in allem: Ich fühle mich nicht frei, weil die Existenzangst nach all dem in der BRD Erlebten mein ständiger Begleiter geworden ist. Denn von dem dünnen Seil, auf dem ich heute noch stehe, kann ich jederzeit herunterfallen.
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