Brief an einen westdeutschen Kollegen
Ich habe lange überlegt
Hallo Danilo,
ich habe endlich gefunden, warum wir uns mißverstehen müssen.
Erstens: Wenn wir von „deutschen Werten“ ausgehen, dann meinen wir DDRler Offenheit, Zusammenstehen, Frieden, Vernunft, Klugheit, Menschlichkeit, integer sein, sichere Arbeitsplätze, Sicherheit, Sauberkeit. Westdeutsche Werte erlebte ich anders: Erfolg, Härte, Cleverneß, Zynismus, andere übervorteilen, viel Geld haben, z. T. auf Kosten anderer. („Wer Geld hat, ist viel wert, wer keins hat, ist nichts wert.“) Das als „Definition“, als Gespächsbasis, sonst redet man aneinander vorbei.
Zweitens: Seit 2½ Jahrzehnten sammeln Ost-Bürger die Erfahrung, daß eine sie mißachtende arrogante Oberschicht ihre Alltagssorgen ignoriert und daß sie auch von einer medialen Verdummungsindustrie nicht ernst genommen werden. Die weiter zunehmende soziale Unsicherheit und der kräftezehrende Kampf ums tägliche Dasein haben das Gefühl ausgelöst: „So kann es für uns nicht weitergehen!“ Ständige Existenzangst erzeugt die Vorstellung immerwährender Bedrohung. Jeder wird dann zur Bedrohung, ob Deutscher oder Ausländer. Kurt Tucholsky sagte schon: „Das Volk versteht das meiste falsch, aber fühlt das meiste richtig.“
Also Beispiel „Presse der Unwahrheiten“: Wirklich wichtige Beiträge sind möglichst klein, erscheinen einmal, sind ganz versteckt; alles andere wird reißerisch vermarktet. Im Sog von Pegida können sich AfD und NPD leider als „bürgernahe Volksversteher“ ausgeben.
Drittens: Es gehört zu den Unerträglichkeiten der seit 1989 wuchernden Siegermentalität, mit der der Sozialismus und viele Menschen, die sich mit ihm mehr oder weniger identifizierten, auf ganz dümmliche Weise dämonisiert und abgewertet werden, um sie als anachronistische Erscheinungen auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen und, von oben herab, zynisch abzuurteilen. Das heißt für mich: auf tragisch Gescheiterten, die sich die inneren und äußeren Bedingungen ihres Lebens oft nicht aussuchen konnten, feige herumzutreten, ohne sich wirklich der Mühe zu unterziehen, den Stärken und Schwächen ihrer Biographien differenziert nachzugehen, um sie für die heutige politische Kultur fruchtbar zu machen.
Man wollte uns Aufrechte nicht, nur die, die sich anbiederten. Man sollte vom Paulus zum Saulus werden. Das haben viele nicht getan, aber viele mußten eben doch, damit sie überhaupt eine Chance auf ein Einkommen hatten … „Wes Brot ich eß, des Lied ich sing.“
Dabei ist die BRD alles andere als gesund: „Die BRD entwickelt sich von einem relativ sozialen Staat (was sie nur gezwungenermaßen durch den Gegenpol DDR und andere sozialistische Staaten war) immer mehr zu einem Almosen-, Fürsorge- und Suppenküchenstaat“ (O-Ton NDR, 8. 3. 2016, „Panorama“). Staatliche Aufgaben wie Fürsorgehilfe, bei den Tafeln, Kleiderspenden etc. werden aufgeweicht, weil es sich „nicht rechnet“, statt dessen übernehmen dies Freiwillige und Ehrenamtliche. Ohne die würde das alles zusammenbrechen.
Viertens: Im Gegensatz zum gutsituierten bürgerlichen Lager, das vielfach über mehrere Generationen seine kulturellen, ökonomischen und politischen Kompetenzen sowie seine Machtpositionen erworben hat und deshalb oft außerordentlich selbstbewußt, aber auch dünkelhaft auftritt, standen unsereinem nur ein bis zwei Generationen zur Verfügung, um uns aus den Fesseln dieser Diskriminierungen zu befreien. Mein Vater war z. B. der DDR stets dankbar, daß er als armer Bauernsohn die ABF in Halle besuchen konnte. Es wurden ihm dort die Augen geöffnet über die Welt, in der wir leben, ihre Geschichte und die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Heute, nach 25 Jahren Gesamt-BRD, gibt es wieder Analphabeten und grassierende Dummheit, die dazu führt, daß einem drohenden Krieg nicht ausreichend Widerstand entgegengesetzt wird.
Fünftens: An die Flötenlehrerin meines Sohnes schrieb ich kürzlich: „Oben habe ich noch Texte und Noten von unserem Oktoberklub angefügt. Bei uns gab es diese tolle Singebewegung, die man leider 1990 auch plattgemacht hat. Plötzlich war es verpönt, von Frieden, Liebe und der Schönheit des Lebens zu singen. Obwohl wir es heute wieder so nötig hätten in einer Welt voller Kriege! Wir sind übrigens froh, daß Konni bei Ihnen etwas von Musik und somit Kultur lernt. Leider fällt der Musikunterricht in der KGS (wie auch anderer Unterricht – es ist eine Schande!) sehr oft aus.“
Kürzlich las ich von Goethe: „Es ist nicht genug, daß man Talent habe, es gehört mehr dazu, um gescheit zu werden; man muß auch in großen Verhältnissen leben und Gelegenheit haben, den spielenden Figuren seiner Zeit in die Karten zu sehen und selber zu Gewinn und Verlust mitzuspielen.“
In diesem Sinne verbleibe ich
Ihre Andrea Wohlfahrt
… und Sigmar Gabriel entdeckt plötzlich „soziale Fragen“!
Steht gar eine 180-Grad-Wende der SPD nach links bevor?
Karikatur: Gertrud Zucker
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