17. Juni 1953 – ein Arbeiteraufstand?
Als Student der Wirtschaftswissenschaft kam ich gegen Abend aus meinem Praktikumsbetrieb, dem Kombinat Böhlen in Leipzig, auf dem Hauptbahnhof an. Der Betrieb hatte ohne Störungen an seinen Planaufgaben gearbeitet. Auf dem Bahnhofsvorplatz sah ich viele Menschen, die aufgeregt debattierten. Ich wollte wissen, was der Grund dafür war, mischte mich mit ein und hörte: „Die Normerhöhungen sind doch eine Schweinerei, und in Berlin gingen deshalb die Bauarbeiter auf die Straße.“ Einige Passanten trugen auch das SED-Abzeichen an der Jacke. Manche verwiesen darauf, daß doch schon am Vortag Grotewohl im Rundfunk erklärt habe, die Normensache sei sofort aufgehoben worden. Sie fragten: „Was soll also die ganze Aufregung?“
Am Rande des Vorplatzes sah ich, wie eine Gruppe junger Leute dabei war, alles, was ihnen unter die Finger kam, zu zerstören oder anzuzünden. Fahnen, Plakate und Parkbänke sah ich brennen. Ich entschloß mich, nicht gleich nach Hause, sondern erst in meine Fakultät in der nahen Ritterstraße zu gehen. Hierbei mußte ich an der Bezirksleitung der FDJ vorbei. Was ich sah, war schockierend: Rowdys waren dabei, die Büroräume in der 1. Etage zu zerstören. Alles flog aus dem Fenster auf die Straße, ohne Rücksicht auf Passanten und den Verkehr. Akten, Möbel und Schreibmaschinen. Dann kamen zwei Mädels schreiend, blutend und mit in Fetzen herunterhängender Bluse auf die Straße gerannt. Ich war empört. Doch gerade in diesem Moment hörte ich lautes Motorengeräusch und Kettengeklirr. Um besser zu sehen, ging ich auf den Bahnhofsvorplatz zurück. Ich sah eine Gruppe von sechs sowjetischen Panzern heranrollen. Sie schossen mit ihren MGs einige Salven in die Luft. Die Menge ging ruhig und gelassen auseinander. Nur bei den Randalierern im Park entstand heftige Panik. Sie schmissen sich auf die Erde in den Dreck, ins Gebüsch, suchten Deckung und waren plötzlich verschwunden. Es war jetzt Ruhe, und ich hätte vor Freude jubeln können. Es gab keinen einzigen Toten.
Ein Jahr später war mein Praktikumsbetrieb das Eisenhüttenkombinat in Stalinstadt. Da der RIAS immer von „Arbeiteraufstand“ schwafelte, wollte ich wissen, was hier vor einem Jahr los war. Mit vielen Kumpels sprach ich, und sie erzählten, daß tatsächlich Leute an ihre Arbeitsplätze gekommen seien und sie zum Demonstrieren für höhere Löhne aufgefordert hätten. Nur ganz wenige seien wohl mitgegangen. Am Hochofen 5 sagte der Ofenfahrer, einer sei auf die Bühne gekommen und habe ihn runterzerren wollen. Auf die Bemerkung hin, daß man den Ofen nicht verlassen dürfe, weil er dann „durchgehe“, sagten sie: „Das macht doch nichts.“ Dann sei ihm sein Kollege zu Hilfe gekommen. Er hätte den Burschen gepackt und über die Brüstung zum Schlacke-Abstich gehalten. Als er ihn wieder freiließ, sei die ganze Bande davongerannt. Nun war mir endgültig klar, die Bezeichnung „Arbeiteraufstand“, wie sie schon damals gebraucht wurde, stimmte auf keinen Fall. Es war reine Zweck- und Hetzpropaganda.
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