RotFuchs 230 – März 2017

50 Jahre Enzyklika „Über den gerechten
Fortschritt der Völker“

Autorenkollektiv

Am 26. März 1967, dem Osterfest, übergab Papst Paul VI. die Enzyklika „Über den gerechten Fortschritt der Völker“ allen Menschen der Welt. Das Dokument widerspiegelte einerseits, wie die Papstkirche zur Lösung der herangereiften Menschheitsfragen beitragen wollte, konkurrierte andererseits mit Strategien von Wissenschaftlern, UNO-Organen und der internationalen Arbeiterbewegung. Die Enzyklika „Populorum Progressio“ befaßte sich in 97 Lehrsätzen mit der „Entwicklung der Völker“. Die Einschätzungen und Lösungsvorschläge sind aktueller denn je. Vor allem Gläubige aus den Entwicklungsländern erwarten, daß gerade der argentinische Papst das Anliegen der Enzyklika ernst nimmt – hatte doch die „Theologie der Befreiung“ schon einmal Hoffnung auf mehr irdische Gerechtigkeit in seiner Heimat Argentinien geweckt.

Die Fülle der Probleme zwingt zur Auswahl und zur Straffung. Die erste Frage ist: Wie kam es zu dieser Enzyklika, und mit welcher Absicht wurde sie verabschiedet? Sie stand am Ende des I. Vatikanischen Konzils, auf dem sich die katholische Kirche reformieren wollte. Die Verantwortlichen wußten, daß der Einfluß der Kirche auf die Masse der Katholiken in aller Welt nicht zuletzt davon abhängt, ob sich die Kirche den Menschheitsfragen stellt und sich als reformfähig erweist. In der Einleitung erklärt Paul VI: „Die Entwicklung der Völker wird von der Kirche aufmerksam verfolgt: vor allem derer, die dem Hunger, dem Elend, den herrschenden Krankheiten, der Unwissenheit, denen die Völker zu entrinnen suchen; derer, die umfassender an den Früchten der Zivilisation teilnehmen und ihre Begabung wirksamer zur Geltung bringen wollen, die entschieden ihre vollere Entfaltung erstreben. Heute ist, darüber müssen sich alle klar sein, die soziale Frage weltweit geworden.“

Angesichts der Folgen des „arabischen Frühlings“ im Nahen und Mittleren Osten und der Flüchtlingsströme zitieren wir drei Lehrsätze wegen ihrer Brisanz und Aktualität.

„Es eilt. Zu viele Menschen sind in Not, und es wächst der Abstand, der den Fortschritt der einen von der Stagnation, besser gesagt dem Rückschritt der anderen trennt. Die zu treffenden Maßnahmen müssen aufeinander abgestimmt werden; andernfalls würden sie sich wechselseitig stören. Eine unbedachte Agrarreform kann ihr Ziel verfehlen. Eine übereilte Industrialisierung kann Strukturen zerschlagen, die noch notwendig sind, und zu sozialen Mißständen führen, was menschlich gesehen ein Rückschritt wäre.

Es gibt ganz sicher Situationen, deren Ungerechtigkeit zum Himmel schreit. Wenn ganze Völker, die am Mangel des Notwendigsten leiden, unter fremder Herrschaft gehindert werden, irgend etwas aus eigener Initiative zu unternehmen, zu höherer Bildung aufzusteigen, am sozialen und politischen Leben teilzunehmen, dann ist die Versuchung groß, solches gegen die menschliche Würde verstoßende Unrecht mit Gewalt zu beseitigen.

Trotzdem: Jede Revolution – ausgenommen im Fall der eindeutigen und lange dauernden Gewaltherrschaft, die die Grundrechte der Person schwer verletzt und dem Gemeinwohl des Landes ernsten Schaden zufügt – zeugt neues Unrecht, bringt neue Störungen des Gleichgewichts mit sich, ruft neue Zerrüttung hervor. Man kann das Übel, das existiert, nicht mit einem noch größeren Übel vertreiben.“

Wer diese Lehrsätze genauer prüft, muß konstatieren: Das, was kritisiert wird, ist vage formuliert. Die Ursachen für das Kritisierte bleiben im dunkeln. Die Vorschläge werden relativiert. Vor einer Änderung der Eigentumsverhältnisse wird gewarnt, erst recht vor einer Revolution. Dennoch unterstützte die Zeitschrift „Probleme des Friedens und des Sozialismus“ die progressiven Aussagen der Enzyklika. Fortschrittlich gesinnte Geistliche in den lateinamerikanischen Ländern nutzten die Enzyklika als Argumente gegen reaktionäre Teile der Geistlichkeit.

Im zweiten Teil der Enzyklika, in dem es um Maßnahmen geht, bleibt der Text noch allgemeiner.

Im Lehrsatz 49 forderte der Papst, daß die Reichen von ihrem Überfluß abgeben: „Tun sie es nicht, so wird ihr hartnäckiger Geiz das Gericht Gottes und den Zorn der Armen erregen, und unabsehbar werden die Folgen sein.“ Die Konsequenz dieses Satzes ist prüfenswert. Der Reiche, der nicht in der Hölle schmoren möchte oder von den Armen weggefegt werden will, müßte in seinem ureigensten Interesse dem Rat des Papstes und biblischem Vorbild folgen. Warum tut er das in der Regel nicht? Die Antwort kann sich jeder Leser selbst geben.

Der Lehrsatz 51 ist von großer Aktualität, denn er wendet sich an die obersten Lenker von Staaten, denen empfohlen wird, einen Teil der Rüstungskosten einzusparen und das Geld auf einem „Weltfonds“ zu sammeln, um notleidenden Völkern zu helfen. Für Deutschland hätte das geheißen, daß Kohl und Merkel der päpstlichen Aufforderung hätten folgen müssen. Warum tun das „christliche“ deutsche Staatslenker nicht?

Warum sind deutsche Militärbischöfe aktiv beim Segnen von Militäreinsätzen, die ohne „moderne“ Waffen gar nicht möglich wären?

Hier zeigt sich besonders deutlich, wie eng die Grenzen päpstlicher Macht manchmal gezogen sind. Sie bestehen vor allem in der Struktur, Hierarchie, Tradition und Interessen der Kirchenoberen in der Papstkirche selbst. Die Fakten sprechen für sich: Die katholische Kirche verfügt über den größten Grundbesitz und ist in vielen Ländern Teil der Oligarchie. Sie besitzt Banken und Aktien, Handelseinrichtungen und Rüstungskonzerne. Die größte Privatbank der Welt, die Bank of America, befindet sich zu 51 % in der Hand von Jesuiten. Wird Papst Franziskus als Ordensmitglied der „Gesellschaft Jesu“ daran etwas ändern wollen und können?

Päpste und Bischöfe hatten keine Skrupel, mit faschistischen Regimes und Militärdiktaturen zu paktieren – von Mussolini über Franco bis Pinochet. Selbst Hitlers Aggressionskriege zur Rettung des „christlichen Abendlandes“ vor der „jüdisch-bolschewistischen“ Gefahr führten nicht zum Protest des Vatikans. Totalitarismusforscher haben keine Mühe, der Papstkirche totalitäre, demokratiefeindliche Machtausübung nachzuweisen.

Haben sich seit Erscheinen der Enzyklika 1967 entscheidende Verbesserungen für die Menschheit ergeben? Helmut Kohl hatte am 19. Dezember 1989 vor der Ruine der Frauenkirche geschworen, daß vom „wiedervereinigten“ Deutschland kein neuer Krieg ausgeht. Inzwischen gibt es 16 Einsätze der Bundeswehr „out of area“. Wie reagierten der Vatikan (unter dem deutschen Papst) und die Bischöfe darauf und auf die Aggressionen im arabischen Raum? Barak Obama hatte dem Terrorismus den Krieg erklärt und nebenbei mit Hilfe von Terroristen und NATO-Verbündeten nach erlogenen Kriegsgründen prosperierende Staaten wie Irak oder Libyen in Trümmerlandschaften verwandelt.

Anfang 2017 erreichen uns weder aus Washington noch aus Berlin frohe Botschaften. Immerhin: In New York begann António Guterres, ein gläubiger Portugiese, seine Amtstätigkeit als neuer UNO-Generalsekretär. Vielleicht ist das ein Hoffnungsschimmer! Allerdings müssen wir in Rechnung stellen, daß der UNO-Generalsekretär über keine reale Macht verfügt. Er kann sich als Stimme des Weltgewissens Gehör verschaffen wie ein Papst, aber der Papst steht an der Spitze einer Hierarchie, die seine Stimme bis in das entlegenste Dorf tragen kann. Wie wirksam diese Stimme sein kann, zeigte der polnische Papst Johannes Paul II., der 1992 den Katechismus der katholischen Kirche herausgegeben hat. Dort sind die Höllenqualen beschrieben, die jene reichen Gläubigen zu erwarten haben, die sich dem Papst widersetzen. Vielleicht erreicht die Menschheit mit der Kombination der Ressourcen von Arbeiter- und Friedensbewegung, völkerrechtstreuen UNO-Mitgliedsstaaten und friedenswilligen Gläubigen jene politische Kraft, die die Minimalforderung des UNO-Generalsekretärs Dag Hammarskjöld von 1964 (drei Jahre vor der Synode) erfüllen kann: „Die Vereinten Nationen wurden nicht gegründet, um uns in den Himmel zu bringen, sondern um uns vor der Hölle zu retten.“

Andreas Bendel / Prof. Dr. Horst Schneider