Erinnerungen an einen DDR-Schriftsteller
In alter Verbundenheit, Hermann Kant
Als blutjunger Bibliothekar und Genosse lud ich 1962 für meine erste Literaturveranstaltung einen noch wenig bekannten Schriftsteller in die Arbeiterstadt Brandenburg an der Havel ein. Am Telefon fragte er mich, wieso ich auf ihn gekommen sei, und ich erwiderte, daß mich seine wunderbar-scharfen Polemiken und seine Erzählungen, die ich aus der Zeitschrift „Junge Kunst“ kannte, beeindruckt hätten. Gerade war sein erstes Buch, der Erzählungsband „Ein bißchen Südsee“, erschienen. Es war Hermann Kant, der dann im Oktober 1962 für zwei Lesungen nach Brandenburg kam. Seinen Zuhörern wie mir gefielen vor allem seine Geschichten aus der Jugendzeit. In Erinnerung blieb mir, daß er auf ein Honorar verzichtete und mir beim Abschied erzählte, daß er an einer größeren Arbeit sitze, die mit seinem Studium an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Greifswald zu tun habe. Daraus wurde sein Durchbruch, „Die Aula“, die 1965 erstmalig in Buchform erschien. Leute wie ich und manche andere mußten aber nicht so lange warten, denn die FDJ-Zeitschrift „Forum“ erwarb sich ewigen Ruhm damit, daß sie seit 1962 als ungekürzte Vorabdrucke Christa Wolfs „Der geteilte Himmel“, Kants „Aula“, die „Spur der Steine“ von Erik Neutsch und – wenn ich mich nicht irre – auch Dieter Nolls „Abenteuer des Werner Holt“ veröffentlichte. Bei solchen neuen feinen Sachen schlug das Herz höher.
In der Berliner Humboldt-Universität moderierte Hermann Kant 1963 einen der berühmten Lyrikabende – die Stephan Hermlin ein Jahr zuvor in der Akademie der Künste aus der Taufe gehoben hatte –, wo heutige Berühmtheiten wie Volker Braun oder Sarah und Rainer Kirsch vorgestellt wurden. Mit „Auswahl 64“ kam darüber dann im Verlag Neues Leben eine heute gesuchte Lyrikanthologie heraus. 1966 fragte ich Stephan Hermlin, warum es von ihm so wenig literarische Texte mit Gegenwartsbezug gäbe. Seine Antwort war, daß er das lieber jüngeren Autoren überlasse und nannte als solche, die er fördere, Franz Fühmann und seinen Freund Hermann Kant.
Bei einer Veranstaltung zum 50. Jahrestag der Oktoberrevolution 1967 in der Humboldt-Universität nannte Kant als Hauptredner fünf Persönlichkeiten, die ihn im 20. Jahrhundert am meisten beeindruckt hätten: Lenin, der für jede seiner zehn großen Arbeiten einen Doktortitel verdient hätte, und – unter anderen – auch einen gewissen Arnold Vieth von Golßenau. Es gab einen unbeschreiblichen Applaus, denn jener, der sich inzwischen Ludwig Renn nannte, saß als Akteur vorn im Präsidium. Zum 20. Jahrestag der DDR gab es 1969 eine weitere Einladung an Hermann Kant nach Brandenburg. Das Ankündigungsplakat war schon gedruckt und geklebt. Kant wollte seinen neuen Roman „Das Impressum“ vorstellen. Statt dessen kam ein Absage-Telegramm. Irgend jemand verzögerte das Erscheinen des Buches bis 1972. Später sah ich Kant bei Buchbasaren oder Lesungen. In den 80er Jahren begegneten wir uns bei einer seiner Wanderungen durch Berlin. Er war zu Fuß auf dem Weg aus dem Stadtbezirk Mitte zum Prenzlauer Berg, wo er sich zum Schreiben ein kleines Zimmer gemietet hatte. Zu Hause mit seiner turbulenten jungen Familie fände er nicht die nötige Ruhe.
Etwa 1988 erzählte mir ein Mitarbeiter des Schriftstellerverbandes, dessen Präsident Hermann Kant schon lange war, daß dieser nach der „Sputnik“-Verbotsaffäre mit einem Exemplar der Zeitschrift unter den Arm geklemmt zum ZK gegangen sei, um seinen Unmut und sein Unverständnis kundzutun. So bekam ich eine leichte Ahnung von den Spannungen, die Kant im nationalen wie internationalen Rahmen in seiner Funktion als Verbandspräsident durchstehen mußte.
Dann kam die „Wende“. Am 18. März 1990, dem Tag der letzten Volkskammerwahl, begegnete ich abends im Haus des ZK (oder war es im Staatsratsgebäude?) Hermann Kant, dem ich die dämliche Frage stellte, wie es ihm gehe. Und bekam sinngemäß die traurige Antwort: Wem es in dieser Zeit gutgehe, der habe von der Alternative zur 40jährigen staatlichen Existenz der DDR wohl wenig verstanden. Danach verstärkte sich die Hatz gegen aufrechte DDRler, zu einem der Buhmänner wurde Hermann Kant, der sich nun weitgehend aus der Öffentlichkeit verabschiedete und sich arbeitend nach Süd-Mecklenburg zurückzog. Anfang der 90er Jahre traf ich ihn wieder im Hendrik-Kraemer-Haus, Sitz der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde in Westberlin, das von der legendären Pastorin Be Ruys jahrzehntelang geleitet wurde. In dem offenen Gespräch gab Kant zum besten, daß es die anwesenden Christen leichter hätten als er: Sie könnten bei Problemen auf Hilfe von „oben“ (dabei wies er himmelwärts) hoffen, er müsse seine Schmerzen allein und auf Erden bewältigen. Dabei irrte allerdings Kant, denn das Kraemer-Haus stellte sich höchst irdische Aufgaben wie Flüchtlingshilfe, Kirchenasyl, nationale wie internationale Friedensverständigung und nicht zuletzt dem christlich-marxistischen Dialog. Mehrmals begegnete ich Kant bei den Berliner Liebknecht-Luxemburg-Demonstrationen, so auch mit seinem Sohn und dem einstigen DDR-Bücherminister Klaus Höpcke.
Nach einer Lesung Mitte der 90er Jahre in der Marzahner Erich-Weinert-Bibliothek erzählte Kant seinen Gästen, daß er in einem neubundesdeutschen Verzeichnis empfehlenswerter Sachbücher über die DDR die Eintragung gefunden habe, wer sich über das Bildungswesen in der DDR informieren wolle, möge Kants „Aula“ lesen – was von den Zuhörern mit großer Erheiterung zur Kenntnis genommen wurde.
Anfang Oktober 2005 waren Hermann Kant und Helmut Sakowski – sie waren in Mecklenburg beinahe Nachbarn – an unterschiedlichen Tagen zu Lesungen im Kulturgut Berlin-Marzahn, wo ich das nebenstehende Foto von Kant machen konnte. Wenige Monate später starb Helmut Sakowski, der froh war, die Prosafassung seines Hauptwerks „Wege übers Land“ noch vollendet zu haben. Die Trauerrede in Neustrelitz hielt sein Freund Kant. Nun ist auch Hermann Kant, gerade 90 Jahre alt geworden, für immer gegangen. Ich bin dankbar, ihm als Menschen wie in seinen Büchern, anderen Schriften und Spiel- und Dokumentar-Filmen, die uns bleiben werden, erlebt zu haben. Die heutige bürgerliche Öffentlichkeit wankte nach seinem Tod zwischen verhaltener Anerkennung und der Wiederholung von Unterstellungen. Meine Zeilen sind kein Nachruf, aber vielleicht kleine Erinnerungen an einen großen Literaten, Polemiker und Genossen. Hermann Kant war durch und durch ein DDR-Schriftsteller – von der besten Art.
Die Überschrift ist Teil einer Buch-Widmung Hermann Kants für unseren Autor.
Nachricht 456 von 2043