Russophobe NATO-Politiker hätten
ohnehin nicht auf die Ehrentribüne gehört
In Moskau fehlten am 9. Mai die Richtigen
Noch einmal möchte ich zu bereits vor Monaten Erlebtem und Empfundenem zurückkehren. Als ich am 9. Mai die Moskauer Feierlichkeiten zum Tag des Sieges über den Hitlerfaschismus am Bildschirm verfolgte, beseelten mich sehr gemischte Gefühle. Wie viele Deutsche, die Dankbarkeit für die Befreiung ihrer Heimat von der verbrecherischsten Form des Imperialismus empfanden, die es bisher auf dem Boden ihres Landes und wohl auch weltweit gegeben hat, schämte ich mich als daran Unbeteiligter. Der Anblick der unendlich vielen Fotos gefallener oder ums Leben gebrachter Sowjetbürger, die von deren Angehörigen und Nachkommen während des Gedenkmarsches in der russischen Hauptstadt emporgehalten wurden, ließ mich an die 27 Millionen Kriegstoten der UdSSR denken. Zugleich aber war ich von der kleinkarierten Arroganz und deutschen Großmannssucht der Kanzlerin wie des Bundespräsidenten angewidert, die dem Weltereignis auf dem Roten Platz wie alle anderen NATO-Spitzenpolitiker ferngeblieben waren. 70 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges rammten die beiden obersten Repräsentanten der Bundesrepublik Deutschland im Namen ihres Staates damit Pflöcke der Schande ein, die Generationen überdauern werden.
Welche Art deutscher Repräsentanten hätte ich mir auf der Ehrentribüne in Moskau gewünscht? Mir fielen da ohne Zweifel etliche ein, doch gewiß nicht jene, welche mich in ihren Reden bisweilen an die Propagandisten eines Josef Goebbels in puncto Haß und Herrenmenschendünkel erinnern. Ihre Russophobie und antirussische Verleumdungslust stehen in einer üblen Tradition.
Wenn mich heute jemand fragen würde, womit die BRD den Nachweis der von ihr selbst eingeforderten Rechtsnachfolge des 3. Reiches am eklatantesten liefert, dann würden mir zwei Aspekte in den Sinn kommen. Erstens drückt sich dieses Erbe darin aus, daß sie von denselben sozialen „Eliten“ beherrscht wird, die auch in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Politik Nazideutschlands aus dem Hintergrund steuerten. Zweitens zeigt sich diese Traditionslinie im nahtlosen Übergang vom Antisowjetismus und pathologischen Antikommunismus zum ungezügelten Russenhaß unserer Tage. Der alte imperiale Drang nach Osten und die nie wirklich überwundene Herrenmenschenideologie sind darin vereint. Die BRD ist einfach außerstande, die Millionen und aber Millionen Sowjetbürger, welche der faschistischen Aggression zum Opfer fielen, auch nur in Rechnung zu stellen, geschweige denn zu ehren. Für ihre imperialistische Führung und die mit ihr verbundenen Kräfte sind die ermordeten „Russen“ noch immer tote Feinde, um die man nicht trauern muß. Sie verzeihen dem heutigen Rußland, das sie trotz gravierender Unterschiede ganz automatisch in die Nachfolge der Sowjetunion stellen, die ihnen 1945 zugefügte Niederlage ebensowenig, wie sie der DDR dafür Pardon geben, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein Ende gesetzt zu haben.
Auf ihre Weise haben sie sogar recht: Die Menschen der Sowjetunion waren tatsächlich Feinde des deutschen Imperialismus, und das heute wieder erstarkte Rußland hindert die NATO-Mächte durch Putins die nationale Würde wahrenden Kurs daran, ihre imperialen Gelüste voll auszuleben.
Seit 1990 sind wir einstigen DDR-Bürger einem Deutschland zugeschlagen worden, dessen Aggressivität nach innen und außen immer bedrohlichere Dimensionen annimmt. Gegen meinen Willen bin auch ich Bürger eines Landes, das Kriege führt oder sich an ihnen dadurch beteiligt, daß es todbringende Waffen in Krisengebiete exportiert.
Was aber hat das alles mit dem 9. Mai 2015 in Moskau zu tun? Will ich denn wirklich, daß die gefallenen Rotarmisten und die getöteten Zivilisten des einstigen Sowjetlandes heute durch Repräsentanten des deutschen Imperialismus wie Merkel und Gauck „geehrt“ werden? Gleicht das nicht eher einer Schmähung? Diese folgte ja auf dem Fuße, indem die Bundeskanzlerin einen Aufenthalt an der Moskwa am Tage danach dazu nutzte, eine souveräne Entscheidung der russischen Führung und der Bevölkerung der Krim auf empörende Weise zu attackieren.
Offen gestanden: Ich habe die beiden Repräsentanten des Deutschland der „alten Eliten“ bei der Siegesparade in Moskau nicht vermißt. Wären sie am 9. Mai dort gewesen, hätte man die Vertreter jener Kräfte auf der Ehrentribüne gesehen, die trotz neuen Dekors und höchst unterschiedlicher eigener Biographien die Rechtsnachfolger jenes Deutschlands vertreten hätten, das 1941 über die Sowjetunion herfiel. Damit wäre weder den Toten noch den überlebenden Veteranen Ehre erwiesen worden.
Ich besitze ein Bändchen des Berliner Kinderbuchverlags aus dem Jahre 1953, das ich antiquarisch irgendwann mal erworben habe. Sein Titel lautet „Freundschaft, Drushba, Amitié“. Es enthält den Briefwechsel Junger Pioniere der damals noch jüngeren DDR mit Schriftstellern aus aller Welt. Darin kommen die Hoffnungen auf eine bessere Zukunft, die Trauer über die Wunden des Krieges und die frisch aufkeimende Freundschaft zwischen Kindern und Autoren zum Ausdruck. An einer Stelle wird Johannes R. Becher zitiert:
„Ich bin Deutscher. Aber ein Deutscher sein heißt nicht, die Welt mit Schrecken überziehn. Von solchen Deutschen Deutschland zu befrein, dazu ward mir mein Dichteramt verliehn.“
Bis 1990 war ein Drittel des Landes bereits von Schrecken erzeugenden Deutschen befreit. Dann vermochten die Kräfte des Gestern – die Rechtsnachfolger des 3. Reiches – das Rad der Geschichte noch einmal zurückzudrehen.
Als Optimist betrachte ich indes die derzeitige Armseligkeit der Repräsentation dieses Deutschlands – bei aller vordergründigen Pracht und Herrlichkeit, die etwas anderes einreden soll – als Symptom des Verfalls und des Niedergangs. Alle, die wirklich ein neues Deutschland wollen, müssen sich mit der Überzeugung ausrüsten, daß die heute Mächtigen eines Tages mit Sicherheit Geschichte sein werden. Wer kämpfen will, braucht einen langen Atem.
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