Ingeborg Rapoport –
Promotion mit 102 Jahren
Ingeborg Rapoport durfte als Jüdin 1938 ihre Doktorarbeit an der Medizinischen Fakultät des UKE (Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf) nicht verteidigen. Erst in ihrem „vierten Leben“ erhielt sie 2015 im Alter von 102 Jahren ihren Doktortitel mit Auszeichnung (der RF berichtete bereits kurz).
Den Namen Rapoport hörte ich schon vor Jahrzehnten. Einige meiner Freunde gingen in den 50er und 60er Jahren mit ihren Kleinen zur Vorsorge oder Behandlung in die Kindersprechstunde an der Berliner Charité, die Ingeborg Rapoport von 1958 bis zu ihrer Emeritierung 1973 abhielt. Die Mütter waren voll des Lobes über die menschlichen und medizinischen Qualitäten „ihrer“ Frau Doktor.
Mehr wußte ich bis dahin nicht über sie.
Als im Jahre 1997 ihre Erinnerungen „Meine ersten drei Leben“ erschienen, kaufte ich mir das Buch sofort und erfuhr, daß sie ihre Kindheit und Jugend in Hamburg verlebt hatte und zwar ganz in meiner Nähe, im Loogestieg, bis sie 1938 in die USA emigrieren mußte. Aus ihren Erinnerungen erfuhr ich, daß ihr in Hamburg abgeschlossenes Medizinstudium in den USA nicht anerkannt wurde und wie sie ihren Mann Samuel Mitja kennenlernte, einen Biochemiker und bekennenden Kommunisten, der aus Wien wegen der zunehmenden Faschisierung ebenfalls in die USA flüchten mußte.
Die Verfolgungen in der McCarthy-Zeit und eine Vorladung vor den „Ausschuß für unamerikanische Umtriebe“ hatten ihre Existenz in den USA bedroht, und die fünfköpfige Familie flüchtete nach Wien. Aber dort gab es für die Wissenschaftler keine Arbeitsmöglichkeit. Ingeborg schreibt: „McCarthy erreichte uns auch in Wien.“ Nach Deutschland wollte Ingeborg zunächst auf keinen Fall zurück, aber dann bot ihnen die DDR eine neue Existenz, und 1952 begann das „dritte Leben“ der Rapoports: eine fast 40 Jahre dauernde erfolgreiche und befriedigende ärztliche und wissenschaftliche Tätigkeit im „anderen Deutschland“.
Als Ingeborg ihre Erinnerungen aufschrieb, lebte Mitja noch. Er starb am 7. Juni 2004. Ich las seine Todesanzeige im „Neuen Deutschland“. Damals war Ingeborg 92 Jahre alt. Und dann entdeckte ich plötzlich am 20. Mai 2015 in der „jungen Welt“ einen Artikel mit der Überschrift: „Magna cum laude. Nach 78 Jahren: Die 102jährige Kinderärztin, Antifaschistin und ehemalige DDR-Bürgerin Ingeborg Rapoport erhält ihren von den Nazis verwehrten Doktortitel mit Auszeichnung.“
Auslöser für dieses ungewöhnliche Ereignis war ihre Autobiographie, die dem Dekan der Medizinischen Fakultät des UKE, Professor Uwe Koch-Gromitz, zufällig in die Hände fiel.
1938 wurde Ingeborg Syllm die Verteidigung ihrer Doktorarbeit unmöglich gemacht „wegen der geltenden Gesetze und ihrer Abstammung“ – ihre Mutter war Jüdin. Die Verteidigung erfolgte 78 Jahre später in ihrem eigenen Wohnzimmer. Eine dreiköpfige Prüfungskommission unterzog die Ärztin einer fast einstündigen Befragung. Koch-Gromitz äußerte sich: „Nicht nur unter Berücksichtigung ihres hohen Alters war sie einfach brillant. Wir waren beeindruckt von ihrer intellektuellen Wachheit und sprachlos über ihr Fachwissen – auch im Bereich moderner Medizin.“
Die Kinderärztin hatte sich intensiv auf die Verteidigung vorbereitet. Da sie fast blind ist, beauftragte sie Freunde und ehemalige Kollegen, Fachtexte aufzutreiben und im Internet „nach allem zu googeln“, was an aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen wichtig war. Die Wochen vor der Prüfung waren eine Herausforderung für sie, denn sie wollte „die drei Professoren, die extra aus Hamburg gekommen waren, keineswegs enttäuschen“. Allerdings wurden in der Vorbereitungszeit die lange verschütteten Erinnerungen an die Scheußlichkeiten der faschistischen Zeit insbesondere an der Universität wieder wach: die krakeelenden braunen Studenten, die jüdische oder „halbjüdische“ Professoren in den Selbstmord trieben. „Fast der gesamte Lehrkörper ist dann naziverseucht gewesen.“
In einer Festveranstaltung im Erikahaus des UKE wurde Ingeborg Rapoport die Promotionsurkunde am 9. Juni 2015 feierlich überreicht. Als die Ärztin ans Mikrofon trat, war das für die 150 Anwesenden ein emotionaler Moment, als sie mit fester Stimme sagte: „Ich möchte mich bedanken, auch im Namen derjenigen, die diesen Tag nicht erleben und ähnliches wie ich erlebt haben – und viel Schlimmeres!“ Viele der Anwesenden schämten sich ihrer Tränen nicht. Leider konnte ich wegen eines Krankenhausaufenthaltes nicht an diese Feierstunde teilnehmen. Deshalb schrieb ich ihr einen langen Brief, um ihr zu versichern, wie groß die Anteilnahme an ihrem Leben auch außerhalb der offiziellen Ehrungen ist. Und daß die Wertschätzung ihres „dritten Lebens“ in der DDR vielen Menschen Mut gibt, das „vierte Leben“ nach der „Wende“ von 1989 zu ertragen.
Groß war meine Freude, als ich im Juli auf meinem Anrufbeantworter ihre Stimme hörte:
„Hier ist Inge Rapoport aus Berlin. Ursula? Ich würde gern in telefonischen Kontakt mit dir treten. Und vielen Dank für den schönen Brief.“ Am 15. Juli hatten wir dann ein langes, wunderbares Gespräch. Sie wollte vor allem etwas darüber wissen, wie der Stadtteil heute aussieht, in dem sie gelebt und studiert hatte, ob denn die alte Schmiede noch steht, an der sie auf ihrem Schulweg immer Halt machte. Leider konnte ich viele ihrer Fragen nicht beantworten.
Sie schreibt über ihre Zeit in der DDR: „Es war eine Zeit des Lernens und auch vieler Initiativen für die ständige Verbesserung des Gesundheitswesens, eine Zeit, wie ich sie nie zuvor und auch später nicht mehr erlebt habe.“ Der Charité hat sie sich auch über ihre Emeritierung 1973 hinaus bis zur „Wende“ zugehörig gefühlt.
Mit dem Ende der DDR begann Ingeborg Rapoports „viertes Leben“. Wenn sie an diese Zeit denkt, ist sie traurig und wütend. Sie hat das Gefühl „aus dem dritten in den Rückwärtsgang geschaltet zu haben. Nie hätte ich gedacht, noch einmal eine solche Flut von Berufsverboten, die massenhafte Vernichtung von Existenzen und Verachtung von Talenten zu erleben, mehr als 45 Jahre nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus und 40 Jahre nach der McCarthy-Ära der USA“, schreibt sie in ihrer Autobiographie. „Nach wie vor glaube ich, daß der Sozialismus die bisher höchste Stufe aller Gesellschaftsordnungen ist.“
Inge empört sich auch über die jahrzehntelangen Bemühungen, die DDR als Unrechtsstaat darzustellen. Sie ist der Auffassung, daß die Bezeichnungen „Unrechtsstaat“ und „Diktatur“ für die DDR gefährliche Wegbereiter dafür sind, sie mit dem faschistischen Mörderregime gleichzusetzen. In ihren Erinnerungen analysiert sie die menschenverachtenden Methoden der Unrechtsstaats-Kampagne: „Eimer- oder tropfenweise dringt es in die Menschen. Im Fernsehen, in Talkshows, in Romanen und öffentlichen Reden, ,Stasi‘-Beschuldigungen und -Verleumdungen, ,Analysen‘, selbst Krimis. Manchmal erfolgt es in massiven Dosen, meist aber in winzigen, bestenfalls gedankenlosen, häufig aber zutiefst bewußten, gezielten Einspritzungen. Alles das hat ein Ziel: Die Menschen zu überzeugen, das erste große sozialistische Experiment sei durch sich selbst mißlungen, habe sich prinzipiell als unfähig erwiesen, eine gerechte Weltordnung zu schaffen. Man nutzt dieses Prädikat ,Unrechtsstaat‘ wie ein Pfeilgift zur Lähmung des freien Menschengeistes. Damit ja niemand den Kopf hebt, sich umsieht und herausfindet, was gut und menschenwürdig an der DDR war, damit man nicht ausspäht nach einem besseren Weg.“
Am 2. September begeht
Prof. Dr. Ingeborg Rapoport
aus Berlin ihren 104. Geburtstag.
Sie zählte zu den renommiertesten Kinderärzten der DDR und hat sich als Wissenschaftlerin und Medizinerin insbesondere auf dem Fachgebiet der Neugeborenenheilkunde bleibende und hohe Verdienste erworben.
Das „RotFuchs“-Kollektiv wünscht ihr bestmögliche Gesundheit und versichert unserer langjährigen Leserin seine Freundschaft und Verbundenheit.
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