Ist der Balkan ein
„sicheres Herkunftsgebiet“?
Ohne Zweifel gibt es einen kausalen Zusammenhang zwischen imperialistischen Kriegen und den enormen Flüchtlingsströmen der Gegenwart. Ich möchte ihn am Beispiel Jugoslawiens erläutern.
Die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) war ein Vielvölkerstaat mit fünf Nationalitäten: etwa 42 % Serben, 23 % Kroaten, 9 % Slowenen, 5 % Mazedonier und 6 % Jugoslawen. Außerdem lebten in dieser Republik nationale Minderheiten: Albaner, besonders in Kosovo (ca. 4 %), Ungarn (ca. 3 %), Türken (ca. 2 %) sowie Slowaken, Sinti und Roma, Deutsche, Rumänen, Bulgaren u.a., zusammen etwa 3 %).
Sie alle gehörten über Jahrhunderte äußerst verschiedenen Kulturkreisen an, wobei die trennenden Grenzen zwischen römisch-katholischem und orthodoxem Glauben, Christentum und Islam prägend waren.
In einem solchen Staat gab es naturgemäß Widersprüche, Probleme und politische Auseinandersetzungen mit nationalistischem Hintergrund. Sie wurden vor allem durch die Aggressionspolitik Deutschlands, Rußlands, der Türkei und der USA bewußt geschürt. Nicht zuletzt daran zerbrach der junge Staat.
Dreimal in diesem Jahrhundert war Deutschland an militärischen Überfällen auf Balkanvölker beteiligt.
In der Zeit von 1914 bis 1918 sollte Serbien als Machtfaktor auf dem Balkan ausgeschaltet werden. Das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger in Sarajewo war der Anlaß für den völkermörderischen 1. Weltkrieg. Berlin stachelte Wien zum militärischen Vorgehen gegen Serbien an, wohlwissend, daß die Balkan-Halbinsel als Pulverfaß Europas galt. Mit seiner Empfehlung, in Serbien loszuschlagen, setzte Wilhelm II. die Lunte in Brand und machte die Region wie ganz Europa zum Schlachtfeld.
Am 9. Oktober 1915 nahm die Heeresgruppe Mackensen Belgrad ein, das erst am 1. November 1918 durch serbische Truppen befreit wurde. Den beiden Toten von Sarajewo waren 10 Millionen Menschen ins Grab gefolgt. Es vergingen 23 Jahre, bis Jugoslawien ein zweites Mal von Deutschen überfallen wurde. Am 6. April 1941 bombardierte Hitlers und Görings Luftwaffe die Hauptstadt Belgrad. Ihrem Terror fielen 2270 Menschen zum Opfer. Ohne Ultimatum oder Kriegserklärung hatte das faschistische Deutschland Jugoslawien angegriffen und es wie 1914 dann zum Todfeind erklärt.
Der serbische Partisan Stjepan Stevo Filipović
rief vor der Hinrichtung „Tod dem Faschismus,
Freiheit für das Volk!“
Kroatien und Montenegro wurden als Marionettenstaaten etabliert, das Land von deutschen Truppen besetzt. In den Reihen der SS kämpften auch kroatische und bosnisch-herzegowinische Faschisten. Vier schwere Jahre des Befreiungskrieges stand die jugoslawische Volksbefreiungsarmee unter Tito gegen die Aggressoren. Am 29.11.1945 wurde die Gründung der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) vollzogen.
Zum zweiten Mal in der Geschichte war die Niederlage des imperialistischen Deutschlands mit dem Entstehen eines einheitlichen jugoslawischen Staates verbunden. Die Hitlerfaschisten fügten ihm schwerste Verluste zu: Im Krieg fielen rund 305 000 Angehörige der jungen Armee. 1,4 Millionen Jugoslawen verloren durch den Okkupantenterror ihr Leben, 90 000 wurden in Konzentrationslager geworfen. Von ihnen kehrte nur ein Drittel zurück. Mit mehr als 1,7 Millionen Gefallenen, Erschossenen und Erschlagenen – 11 % der Gesamtbevölkerung – gehörte Jugoslawien neben der UdSSR und Polen zu den Ländern Europas mit den höchsten Verlusten an Menschenleben.
Angesichts dieser Schuld wäre die BRD wie kein anderer Staat zu respektvollstem Verhalten gegenüber Belgrad verpflichtet gewesen. Doch der 1990 durch die Annexion der DDR um ein Drittel erweiterte Staat des deutschen Imperialismus demonstrierte das direkte Gegenteil: Als der SFRJ 1990/1991 ein Bürgerkrieg drohte, setzte Berlin die Traditionslinie Kaiser Wilhelms und Hitlers fort. Sie fachte den innerjugoslawischen Konflikt bewußt an. Als Teil der NATO und mit einer Regierung aus SPD und Grünen war Deutschland ein drittes Mal am Überfall auf die Balkanvölker beteiligt.
Da die Bundeswehr ja angeblich reinen Verteidigungszwecken dient, muß man fragen: Welche deutschen Grenzen sollten denn 1991/92 auf dem Balkan geschützt werden?
Am 24. März 1999 erklärte Bundeskanzler Gerhard Schröder im BRD-Fernsehen: „… Heute Abend hat die NATO mit Luftschlägen gegen militärische Ziele in Jugoslawien begonnen.“
Der jugoslawische Kommunist und Staatsmann Slobodan Milosevic als Angeklagter in einem inszenierten Prozeß
Wen verteidigten deutsche, amerikanische, britische oder französische Soldaten im Kosovo?
Die Luftschläge der NATO waren ein typischer Ausdruck von Machtpolitik unter modernen Bedingungen und eine neue Form von „Kanonenbootpolitik“. Sie suchten sich dazu Jugoslawien bewußt aus – einen Vielvölkerstaat, der mit etlichen ethnischen Konflikten konfrontiert war.
Jugoslawien war in den Augen der imperialistischen Hauptmächte noch immer zu groß. Ihnen ging es darum, einen von ihnen geführten Balkan zu installieren. Diesem standen damals nur noch die widerspenstigen Serben im Wege. So wurden sie intensiver bombardiert als im 2. Weltkrieg durch Görings Luftwaffe.
Wäre es der NATO – wie vorgegaukelt – um Frieden gegangen, hätte sie die einseitige Parteinahme für Muslime und Kroaten einstellen müssen. Spätestens im Herbst 1992, als die territoriale Scheidung Jugoslawiens in Sezessionsgebiete und Nicht-Sezessionsgebiete auch in Bosnien-Herzegowina vollzogen war, hätten die Bürgerkriegskonflikte ohne westliche Einmischung ihr Ende gefunden. Das von einer tiefen inneren Krise erschütterte Jugoslawien wurde 1991 zum Testfeld der Außen- und Militärpolitik einer zur Großmacht gewordenen BRD auserkoren. Statt die Lehren aus der Geschichte zu beherzigen, setzten Kohl und Genscher die übelsten Traditionslinien großdeutscher Balkanpolitik fort. Jugoslawien brach völlig auseinander. Seine Zerschlagung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts erfolgte vor allem mit Hilfe der BRD. Es war ein Meisterstück der Einmischung des damaligen Bonner Außenministers Genscher.
Die Abtrennung Sloweniens und Kroatiens führte zur Auflösung der SFRJ. Wer Widerstand dagegen leistete, war ein „Aggressor“. Ein höchst kriminelles Bild erneuten deutschen Wütens auf dem Balkan.
Die Militärs brauchten ein Testfeld für ihre neuen Waffensysteme, die Rüstungsmonopole gierten nach höheren Profiten.
Kriege und deren Folgen sind bekanntlich die Hauptursache für die Flüchtlingsströme, auch vom Balkan. Die Hälfte der insgesamt 139 000 europäischen Flüchtlinge bis Anfang September 2015, deren gnadenlose Abschiebung in „sichere Herkunftsländer“ man jetzt vollzieht, waren Serben, Kosovaren oder Montenegriner.
Die den Balkan betreffende Flüchtlingspolitik der BRD-Regierung besteht nicht nur aus Zynismus, sondern auch in einer grenzenlosen Verhöhnung der Opfer.
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