Ist Kaufsucht heilbar?
Eine Sendung im MDR zum Thema „Kaufsucht“ in Deutschland veranlaßt mich, dieses Phänomen etwas unter die Lupe zu nehmen. Als seinerzeit in die DDR eingewanderter BRD-Bürger kann ich mich, denke ich, kompetent dazu äußern. In den letzten 25 Jahren, die seit dem Anschluß der DDR an die BRD vergangen sind, hat sich meine Überzeugung gefestigt, daß wir eine Alternative zu diesem die Menschen krank machenden Gesellschaftssystem brauchen.
Natürlich ist Konsum Voraussetzung sozialer Teilhabe. Er trägt zur Selbständigkeit und einer gewissen sozialen Sicherheit bei. In der kapitalistischen Gesellschaft jedoch zielt die Werbeindustrie darauf ab, das Kaufverhalten der Bürger als zentralen Übungsplatz für selbständiges Handeln zu mißbrauchen. Sich etwas gönnen, Defizite durch Güter kompensieren und das Produkt als Problemlöser anpreisen, von wirklich gesellschaftsrelevanten Problemen ablenken, das sind die Absichten dieser Strategie. Bei nicht wenigen verfängt die „Pseudotherapie“ der Werbeindustrie. Sie verfallen der Kaufsucht. Daß sie damit dem „Rattenfänger von Hameln“ auf den Leim gehen, ist den meisten zwar im Grunde bewußt, da sie jedoch kurzfristig Erleichterung schafft, ist sie ein verführerisch einfaches und zuverlässig wirksames Mittel für kurzfristige Problembewältigung.
Einen besonderen Stellenwert hat in diesem Zusammenhang die Annektion der DDR durch die BRD im Jahr 1990. Die DDR-Gesellschaft verstand sich eben nicht als Konsumgesellschaft, sondern sah sich auf dem Weg zur Kulturgesellschaft. Insofern sie Konsumgesellschaft war, war sie eine auf Gebrauchswerte hin orientierte Gesellschaft. Wollte man das allgemeine Verhältnis beider Systeme zueinander bestimmen, könnte man – vielleicht etwas verallgemeinert – Kategorien wie Tradition versus Moderne / Mangel versus Überfluß / Egalität versus Individualisierung / Standardisierung versus Pluralität von Lebensstilen / Plan versus Markt / Versorgung und Bedarfsdeckung versus Konsum und Shopping herausarbeiten. Modernisierungsprozesse in Sachen Konsum vollzogen sich meiner Wahrnehmung nach allenfalls im Hintergrund. Über das BRD-Fernsehen, Weihnachtspakete aus dem Westen sowie marktfähige Verteilungsformen wie Intershops und Genex waren diese gesteuert worden. So kann man von einer schleichenden „Kolonialisierung“ der DDR-Lebenswelt durch viele Informationskanäle, Warentransfers und werbewirksame Sendungen sprechen. DDR-Bürger waren nie vollständig vom Einfluß westlichen Konsumverhaltens abgeschnitten. Der „Bedürfnisimport“ aus dem Westen, die auf breiter Basis noch nicht erfüllbaren Begehrlichkeiten in diesem Bereich begünstigten in besonderem Maße die Assimilation der ostdeutschen an die westliche Konsumkultur. Daß damit auch die Schattenseiten dieser „Kultur“ mit übernommen wurden, liegt auf der Hand. Eine 1991 durchgeführte Studie zeigte, daß circa fünf Prozent der westdeutschen, aber nur ein Prozent der ostdeutschen Bevölkerung „stark kaufsuchtgefährdet“ waren. Ein Jahrzehnt später hat sich dieses Bild rapide zuungunsten der ostdeutschen Bevölkerung geändert. Nun waren schon 13 Prozent der ostdeutschen gegenüber zehn Prozent der westdeutschen Bevölkerung mit kaufsüchtigem Verhalten erfaßt worden. Betroffen sind Frauen wie Männer jeden Alters und aller Schichten, Reiche wie Arme, Promovierte wie Gelegenheitsarbeiter – gekauft wird faktisch alles. Die meisten haben Schulden. Einige werden kriminell, landen im Gefängnis.
Für die Betroffenen ist es sehr schwer, Heilung zu finden, denn als Krankheit wird Kaufsucht noch immer nicht anerkannt. Denn Werbeindustrie und Produktion leben auch vom Suchtverhalten dieser Menschen. Wollte man ihnen dauerhaft helfen, müßten die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die solches hervorbringen, grundlegend geändert werden.
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