Ist Moskaus Außenpolitik antiimperialistisch?
Im April 1945 legte ich als 17jähriger Soldat die Waffen nieder und stellte mich mit meiner Einheit den tschechoslowakischen Volksmilizen. Diese übergaben uns der Roten Armee. Deren Angehörige führten uns Kriegsgefangene zuerst an die Gulaschkanonen, füllten unsere Kochgeschirre mit Erbsensuppe und empfahlen: „Langsam essen, sonst krank!“ Wir wurden in das zuvor befreite KZ Auschwitz, welches zu einem Kriegsgefangenenlager umfunktioniert worden war, eingewiesen und zu Aufräumungs- und Aufbauarbeiten im benachbarten Birkenau eingesetzt.
Als ich an Gelbsucht erkrankte, pflegten mich russische und deutsche Militärärzte gemeinsam wieder gesund.
Im September 1945 wurden alle Gefangenen unter 18 mit der Ansage ausgesondert: „Wir führen keinen Krieg gegen Kinder!“ Man brachte uns im Güterzug nach Frankfurt/Oder, wo wir mit ordentlichen Papieren entlassen wurden.
Diese ersten Begegnungen haben mich zum Nachdenken über das zutiefst humanistische Wesen sowjetischer und damit auch russischer Politik veranlaßt, was sich bei späteren Studienaufenthalten in der UdSSR erweiterte und vertiefte.
All das geschah zur Zeit des Bestehens der sozialistischen Sowjetunion. Diese gibt es nun nicht mehr, wie auch die anderen Mitglieder der sozialistischen Staatengemeinschaft in Europa. Sie erlagen einer kapitalistischen Restauration. Bereits hier ist Differenzierung geboten. Einige dieser Staaten wie auch ehemalige Sowjetrepubliken strebten der NATO und der EU zu. Andere, darunter die Ukraine vor dem Kiewer Staatsstreich, neigten eher zur Russischen Föderation. Mit anderen Worten: Restauration ist nicht gleich Restauration.
Hier knüpfe ich an die interessanten Gedanken von Hermann Jacobs im Juli-RF an. Er hebt diese Differenzierung auf die Ebene des Vergleichs von imperialistischen, unter Einsatz militärischer Mittel die Weltherrschaft anstrebenden NATO- und EU-Staaten mit den friedenspolitischen Aktivitäten des ebenfalls kapitalistisch strukturierten russischen Staates. Auf vielen Kriegsschauplätzen und weltweit angelegten Militärbasen agieren Truppen der USA, Großbritanniens und Frankreichs. In 13 Fällen sind rund 5000 Bundeswehrangehörige daran beteiligt. Demgegenüber befinden sich keine russischen Soldaten außerhalb der eigenen Staatsgrenzen im Einsatz. Die Aufnahme der Krim in die Russische Föderation erfolgte nach einem Volksentscheid, der dem von der UNO-Satzung zum Prinzip erhobenen Selbstbestimmungsrecht der Völker entsprach, wobei kein Schuß abgegeben wurde. Demgegenüber führte der von den Westmächten politisch, finanziell und militärisch massiv unterstützte Putsch rechter, faschistischer und ultranationalistischer Kräfte in Kiew zu bürgerkriegsartiger Gewalt und vielen Opfern.
Hermann Jacobs stellt die Frage: „Wie ist ein Land einzuschätzen, das auf Imperialismus so reagiert wie Moskau heute?“ Die Antwort sucht er zunächst in innenpolitischen Faktoren und ist dabei auf einem guten Weg. Er schlußfolgert, die Russische Föderation sei „noch kein ausgereifter Kapitalismus“. Nun ist aber historisch wie theoretisch belegt, daß kapitalistisches Ausreifen zwangsläufig zum Imperialismus führt, der stets mit Kriegen schwanger geht. Steht also dem russischen Kapitalismus eine solche Entwicklung bevor? Oder hält die Geschichte eine Überraschung bereit?
Das russische Volk hat in zwei Weltkriegen unsägliches Leid erfahren, hat eine Unzahl an Opfern gebracht und ist daher von einer tiefen Friedenssehnsucht erfüllt. Das heutige Führungspersonal der Föderation verfügt noch über jahrzehntelange Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit militärischen Bedrohungen. So wird der Einkreisungsstrategie von NATO und EU eine vom Volkswillen getragene Festigung des Staates und eine konsequente Friedenspolitik Rußlands entgegengestellt. Die außenpolitische Position, auf deren wesensbestimmende Bedeutung Hermann Jacobs zu Recht hinweist, trägt eindeutig antiimperialistische Züge.
Ermöglicht wird diese Besonderheit durch die heutige weltpolitische Konstellation. Während unser langfristiges Ziel nach wie vor die Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft ist, besitzt der Kampf um die Erhaltung des Friedens höchste Priorität. Dabei ist die Russische Föderation trotz des kapitalistischen Charakters ihrer ökonomischen Strukturen ein starker Partner.
Unser Autor gehörte der Akademie der Wissenschaften der DDR an und ist heute Mitglied der Leibniz-Sozietät.
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