Jahrhundertbriefwechsel
Im März ist Martin Schulz euphorisch zum Parteivorsitzenden der deutschen Sozialdemokraten gewählt worden. Er ist nun Hoffnungsträger einer sich selbst verleugnenden Partei, die aus ihrem Wortschatz die Begriffe Klasse, Klassenkampf, Privateigentum an Produktionsmitteln, Grundwiderspruch des Kapitalismus, Sozialismus längst verbannt hat.
„In einer Zeit des totalen Bankrotts aller bürgerlichen Weltanschauungen ist eine festgefügte, in sich geschlossene, wissenschaftliche Weltanschauung von größter Lebenswichtigkeit“, schrieb Hermann Duncker 1931 (in: Einführungen in den Marxismus. Verlag Tribüne, Berlin 1958, Seite 3). Seit seiner frühesten Jugend mit der organisierten Arbeiterbewegung aufs engste verbunden, trug er maßgeblich dazu bei, marxistisches Grundwissen jenen zu vermitteln, die Auswege aus Unterdrückung und Krieg suchten. „Was ich für die Arbeiterbewegung habe leisten können, verdanke ich wesentlich der kameradschaftlichen Unterstützung meiner Frau“ (ebenda, S. XIII), stellte er fest. Käte und Hermann Duncker entwickelten sich zu führenden Persönlichkeiten in den Reihen deutscher Linker und gehörten zu den Mitbegründern des Spartakusbundes und der Kommunistischen Partei Deutschlands.
Die nahezu lückenlose Korrespondenz der Eheleute ist in ihrer Einmaligkeit erhalten geblieben und von dem Historiker und profunden Duncker-Kenner Heinz Deutschland unter Mitarbeit seiner Ehefrau Ruth als „Tagebuch in Briefen (1894–1953)“ veröffentlicht worden. Langjährige intensive, akribische Arbeit führte zu einem wohl einzigartigen Zeitdokument, das der Herausgeber uneingeschränkt zu Recht als Jahrhundertbriefwechsel bezeichnet.
In diesem Buch berührt u. a. ein Foto den Betrachter: Zwei alte Leute schauen freundlich in die Kamera. Zierlich ist die Frau, sie reicht dem links von ihr stehenden Mann knapp bis an die Schulter. Er beugt sich leicht zu ihr, inniglich. Barhäuptig stehen beide im Schnee. „Winter 1941 in den USA“ steht unter dem Bild. Käte, siebzig Jahre alt, und der siebenundsechzigjährige Hermann waren endlich vereint, nachdem sie Hitlerdeutschland verlassen hatten. Hermann war nach seiner Inhaftierung durch die Nazis 1936 zunächst nach Dänemark emigriert, Käte 1938 in die USA. Wieder war der fast ein halbes Jahrhundert währende Briefwechsel miteinander die wichtigste und zumeist einzige Kommunikationsmöglichkeit. Die Briefe widerspiegeln, wie sich beide am Beginn des 20. Jahrhunderts bewußt auf die Seite der Unterdrückten stellen. Käte kämpft um die Rechte von Frauen und Kindern, Hermann sieht in der marxistischen Bildung der Arbeiterklasse seine Aufgabe. Unermüdlich ist er als Wanderlehrer unterwegs. Der Erste Weltkrieg ist für sie Massenmord, und Hermann schreibt als Soldat von den Fronten. In der Novemberrevolution sehen sie die Möglichkeit der Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. In ihren Briefen tauschen die überzeugten Sozialisten ihre politischen Ansichten, Erkenntnisse und Erfahrungen aus. Sie diskutieren Ausarbeitungen und ihre politischen Positionen. Zur Vielfalt der Themen in den Briefen gehören Literatur, bildende Kunst, Musik, pädagogische, philosophische, ökonomische, religiöse Probleme ebenso wie naturwissenschaftliche. Beeindruckend ist die ausgeprägte Analysefähigkeit. Immer wieder stehen die familiäre Situation und die Entwicklung der Kinder im Mittelpunkt. Die Briefe offenbaren Stärken und Schwächen, zeugen jedoch zugleich von tiefer Liebe und großer gegenseitiger Achtung. Erstaunlich ist, daß man sich beim Lesen der Briefe in die Gedanken der Schreiber einbezogen und freundlich aufgenommen fühlt. Der vollständige Briefwechsel ist auf einer dem Buch beigefügten USB-Card nachlesbar. Exkurse des Herausgebers, ein hervorragender Anmerkungsapparat und Abbildungen sind wertvolle Bestandteile dieses gut gestalteten und lesenswerten Buches, das an bei manchen in Vergessenheit geratene linke Wurzeln führt.
Heinz Deutschland (Hrsg.):
Käte und Hermann Duncker
Ein Tagebuch in Briefen (1894–1953)
Unter Mitarbeit von Ruth Deutschland
Karl-Dietz-Verlag, Berlin 2016. 606 Seiten, mit USB-Card
ISBN 978-3-320-02314-0
49,90 €
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