Vom schönen Haus am See und einem Verbotsschild
Junge Frau im Sozialismus
Aus dem schüchternen Mädchen aus Randberlin war eine junge freche Frau geworden. Ich war jetzt Ehefrau eines Musikers und Mutter eines kleinen Jungen, Adrian, mit großen Ohren und großen Augen, der im Dezember 1963 auf die Welt kam. Der Alltag mit kleinen Kindern war in den sechziger Jahren viel schwieriger als heute. Es gab noch keine Waschmaschine, keine Spülmaschine, keine Fertiggerichte u.v.a., was den Alltag leichter macht. Die Babywindeln aus Stoff wurden im großen Wäschetopf auf dem Herd gekocht. Wir jungen Mütter gingen jede Woche zur Säuglingsberatung im Wohnbezirk, da wurden unsere Süßlinge gewogen und gesundheitlich betreut. In eine Kinderkrippe wollte ich Adrian nicht geben. Ohnehin war es schwierig, einen Platz zu bekommen, da junge, alleinstehende Frauen bevorzugt wurden, was man akzeptierte. Ich beschloß, mindestens zwei Jahre zu Hause zu bleiben, mich um Kind und Familie zu kümmern und zu schreiben. Christian, mein Ehemann, verdiente als Musiklehrer etwa 800 Mark.
Ich besuchte weiter alle vierzehn Tage den Zirkel schreibender Arbeiter im RAW Potsdam (Reichsbahnausbesserungswerk), den der Potsdamer Schriftsteller Franz Fabian kompetent leitete. Unser Zirkel hieß „Leben, Liebe, Zukunft“. Franz machte uns vertraut mit internationaler Lyrik, mit Villon, Puschkin, Schiller, Goethe, den Expressionisten, mit Majakowski, Neruda, Kästner, Brecht und anderen Dichtern. Wir schwelgten im Rausch der Verse. Und für mich öffneten sich die Fenster zur Welt. Der Höhepunkt des Jahres war immer der einwöchige Lehrgang im Schriftstellerheim Petzow bei Werder, dem schönen weißen Haus am See. Das Haus gehörte dem Schriftstellerverband der DDR und ermöglichte jungen Nachwuchsschriftstellern eine Weiterbildung in Form von kostenlosen Lehrgängen. Alle, die fest angestellt arbeiteten, wurden von ihrem Betrieb dafür freigestellt und konnten dort Tag und Nacht dichten. Glückliche Zeit! Tagsüber schrieben wir, abends trafen wir uns im Kaminzimmer, um über unsere Texte zu sprechen.
Das Haus war uns freundlich. Martin Zeissberg war Heimleiter, Emmi die Küchenchefin. Sie behandelten alle gleich, ob Nationalpreisträger oder literarische Anfänger, wie wir es waren. Das Essen war köstlich, der Kuchenduft überwehte die blühenden Kirschplantagen. Der schwarze Riesenhund Arco wachte als gefürchteter Zerberus übers Haus, unter dessen Dach so viele berühmte Schriftsteller geschrieben hatten und schrieben wie Leonhard Frank, Arnold Zweig, Christa und Gerhard Wolf, Sahra und Rainer Kirsch, Herbert Otto, Maxie und Fred Wander, Georg Maurer, Gisela Steineckert, Jens Gerlach, Willi Meinck, Brigitte Reimann, Gisela Heller, Peter Brock und viele andere. Schöne Geschichten aus den Anfangszeiten wurden uns erzählt, z. B. daß die Frau von Leonhard Frank oft aus dem Fenster zur Seeterrasse runterrief: „Leo, dichten!“ Oder daß der liebenswerte Leipziger Dichter Georg Maurer im April 1961 abends aufs Hausdach geklettert war, um das erste bemannte Raumschiff (Wostok 1) mit Juri Gagarin zu sehen. Er sah nix und soll gesagt haben: „Ja, ja, das Größte ist meistens unsichtbar.“ Das Haus war auch offen für internationale Gäste, für linke Schriftsteller der Bundesrepublik und für die Kollegen vom DEFA-Film und vom Fernsehen.
Später, als ich schon Kandidatin des Schriftstellerverbandes war, leitete der Kinderbuchautor Peter Brock unsere „Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“. Peter war unser aller Meister. Er hat uns ein wenig das Zaubern gelehrt, beim Schreiben. Dankbar denke ich an diese schöne, kreative Zeit. Damals lernte ich auch Maxie Wander kennen. Wir freundeten uns an. Maxie konnte mit ihrem Lächeln Eis brechen, und mit ihrem Wiener Charme bezauberte sie alle. Ihr früher Tod hat uns tieftraurig gemacht. Für Maxie habe ich zum Gedenken 1977 dieses Gedicht geschrieben.
Für Maxie Wander
DAS also war es,
das einzige LEBEN.
Den Kopf auf dem letzten Kissen
schläfst du im Jenseits
der Schmerzen …
Da reckt der Novemberbaum
sein Kreuz in den Himmel,
hat weiße Blätter mit
schwarzem Rand, Lesezeichen
den Freunden für deine
ungeschriebenen Bücher.
Gefangen
im letzten Traum
des Lebens, dem TOD,
ruhst du im Raume
unserer Gedanken,
im Raume der unsichtbaren
Bilder, ohne Atem …
Gute Nacht, du Schöne!
Die kostenlosen Lehrgänge waren vor allem für uns Frauen eine Chance, dem Alltag mit Familie und Kindern für kurze Zeit zu entkommen und unbeschwert schreiben zu können. Manchmal setzten sich bekannte ältere Schriftsteller zu uns jungen Autoren, hörten unseren Lesungen zu und gaben gute Ratschläge. Solche kostbaren Stunden erlebte ich mit Jens Gerlach und Gerhard Wolf. Beiden Schriftstellern habe ich für meinen ersten Gedichtband „Tausendundzweite Nacht“ viel zu verdanken. Auch einige Kapitel meines ersten Kinderbuches „Moritz in der Litfaßsäule“ entstanden dort. Da ich die erste Fassung immer mit der Hand schrieb, konnte ich mit Pelzjacke in der Frühlingssonne am Birkentisch draußen im Garten arbeiten. Willi Meinck, mein lieber Schriftstellerkollege und Freund, beschrieb in den „Beiträgen zur Kinder- und Jugendliteratur“, Heft 51 (1979), wie er mich damals dort bei der Arbeit erlebte: „Und man sah ihr – nennen wir sie respektvoll: die Kożik – man sah ihr die Verzweiflung an, wenn sie, wenn wir spazierengingen, vor dem Blumenbeet in der spärlichen Sonne saß und an ihrem ,Moritz‘- Manuskript schrieb, neben sich den trägen Arco.“
Auch die Hauskatzen waren manchmal bei mir, und da ich über Moritz und eine biertrinkende Katze schrieb, hatte ich immer Anregungen.
Ja, so war das damals, im vorigen Jahrtausend im schönen Haus am See.
Das Haus ist heute privatisiert und trägt das Schild „Betreten verboten“.
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