RotFuchs 207 – April 2015

Schorlemmer: Unrechtsstaat DDR – ein untauglicher Begriff

Kassandrarufe aus Wittenberg?

Prof. Dr. Horst Schneider

Friedrich Schorlemmer gilt als eine Ikone der „Bürgerrechtler“. Von ND-Chefredakteur Tom Strohschneider am 4. November 2014 interviewt, verwies er darauf, er sei (von wem?) als „Staatsfeind Nr. 1“ der DDR betrachtet worden. Zweifellos hat das Wort des Predigers aus Wittenberg besonderes Gewicht, seit er 1983 die symbolische Aktion „Schwerter zu Pflugscharen“ ins Leben rief.

Strohschneider fragte seinen Gast, was er am 4. Dezember 1989 als Redner auf dem Berliner Alexanderplatz gedacht habe. „Zwischen den großen Überschriften auch im ‚Zentralorgan‘ ND und dem alltäglich Erlebten klaffte eine unüberbrückbare Lücke.“ Das Volk habe deshalb die Führung in Frage gestellt, antwortete dieser.

Schade, daß Schorlemmers Plädoyer für den Fortbestand einer reformierten DDR hier unerwähnt blieb. Widersprüche existierten in ihr wie in jedem Staat. Der Theologe weiß, daß zwischen den biblischen Normen und der Praxis der christlichen Kirchen seit 2000 Jahren eine unüberbrückbare Kluft besteht. Stellt er deshalb etwa die Daseinsberechtigung der Kirchen und sich als christlich empfindender Regierungen in Frage?

Der Interviewer fragte, ob Schorlemmer an die Gefahr gedacht habe, der Aufbruch könnte gewaltsam beendet werden. Es geht immer noch um die Kundgebung auf dem Alex. Nun ist sie plötzlich ein „Aufbruch“. Schorlemmer war einer von 26 Rednern sehr unterschiedlicher Art. Keiner von ihnen wollte die DDR „weghaben“, und niemand forderte die „Wiedervereinigung“ oder den „Beitritt“ zur BRD.

Schorlemmer antwortet auf die Frage: „Ja, aber nun wissen wir …“ Wenn er mit seinen damaligen Befürchtungen recht gehabt hätte, müßte den Organisatoren der Kundgebung vorgeworfen werden, daß sie kaltblütig ein Massaker einkalkuliert hätten, wäre von der Staatsmacht auf deren Gewaltmonopol zurückgegriffen worden.

Schorlemmer konstatiert heute: „Daß dieser hochgerüstete SED-Staat schließlich den Machtlöffel friedlich abgab, muß nach 25 Jahren anerkennend benannt werden.“

Da sollte doch nachgefragt werden: Sind die Gründe für den Gewaltverzicht der DDR-Machtorgane etwa unwichtig? Wer ist denn für diese Anerkennung zuständig, und wem gebührt sie? Warum ist sie nicht längst erfolgt, obwohl eindeutig bewiesen ist, wer besonnen und verantwortungsvoll, aber auch wer verantwortungslos und verfassungswidrig gehandelt hat? Schließlich wäre noch zu vermerken, daß Pfarrer Schorlemmer nach der „Wende“ gemeinsam mit Thierse und Ullmann zu den Verfechtern der Idee gehört hat, führende DDR-Politiker vor ein Tribunal zu stellen. Ich verzichte hier auf die Bewertung der politischen Konsequenzen dieses keineswegs christlichen Unterfangens.

Trotz des „nun“ eindeutigen Sachverhalts bohrte Strohschneider weiter: „Die Erfahrung von Repressionen gegen Kritiker war aber real …“ Jedenfalls nicht für Schorlemmer, Stolpe, Eggert, Heitmann, Gauck und andere.

Schorlemmer gehörte als selbsternannter „Staatsfeind Nr. 1“ sicher zu den Kritikern der – wie es in falschem Deutsch hieß – „Ein-Parteien-Diktatur“. Kohl wußte sehr genau, daß es nicht nur die SED gab, sondern daß sie eine von fünf Blockparteien war, wenn auch die mitgliederstärkste und einflußreichste. War die CDU, wenn es eine Diktatur (des Proletariats) gab, etwa nicht an der Machtausübung beteiligt? Stanislaw Tillich, Lothar de Maizière und andere mutierten von gescholtenen „Blockflöten“ zu lupenreinen Demokraten. Kohl spannte sie Anfang 1990 vor den Karren seiner Strategie. Daß solche Überläufer ihre früheren Blockfreunde aus der SED ans Messer lieferten, ist ein höchst unappetitlicher Vorgang.

Tom Strohschneider hat sich bis zur Gretchenfrage unserer Tage vorgetastet. „War die DDR … ein Unrechtsstaat?“ wollte er wissen. Schorlemmer antwortete: „Ich halte diesen Begriff für untauglich. Die DDR war kein Rechtsstaat, sie aber generell zu einem Unrechtsstaat zu erklären, ist eine Absurdität.“ Und er führte Beispiele an.

Wenn der Prediger auf Mängel in der DDR verweist, wird man ihm von unserer Seite nicht widersprechen. Doch solche Defizite weisen alle Staaten der Welt auf. Interessant ist Schorlemmers Frage: „Wieso muß eigentlich alles, was das Leben in der DDR war, eingedunkelt werden? Graues Leben muß nicht schwarz gemacht werden. Wenn man die DDR verstehen will, wird man sie unter dieser Prämisse weder verstehen noch ihr gerecht werden.“

Warum weicht Schorlemmer hier auf das indifferente Wörtchen „man“ aus? Welches Subjekt versteckt er dahinter? Warum ist er nicht konsequent und sagt, wer warum die DDR in eine Höllengeburt verwandeln will? Warum tadelt er nicht den Beitrag von Pfarrern wie Gauck und Eppelmann, deren verhängnisvolle Rolle bei der Verteufelung der DDR und der Spaltung der Deutschen in Gewinner und Verlierer unübersehbar ist?

Schorlemmer soll dem Interviewer die Frage beantworten, woran die DDR gescheitert ist. „Die inneren Widersprüche des Landes wurden zu groß. … In der DDR sollte Unmögliches möglich gemacht werden und das auch noch mit untauglichen Mitteln. Menschliches Glück sollte im real existierenden Sozialismus durch die Partei – von oben – hergestellt werden“, antwortet er.

Diese Aussage ist unter Schorlemmers Niveau! Der Wittenberger Theologe hat die Konfrontation der Atommächte beider Weltsysteme am Rande des nuklearen Abgrunds, vor allem aber die Globalstrategie der USA ausgeklammert, obwohl sich sein „Schwerter zu Pflugscharen“ auch dagegen wandte. Daß die DDR Teil des Ganzen und damit Subjekt wie Objekt dieses Kampfes war, ist auch ihm nicht unbekannt. Hinzugefügt sei: Ohne oder gegen Moskau konnte die „Wiedervereinigung“ nicht einmal gedacht werden. Kohl brauchte außer Bush und der NATO auch noch die Preisgabe-Bereitschaft des Duos Gorbatschow-Jelzin als Trumpfkarte seines Spiels. Er kalkulierte auch „Bürgerrechtler“ als Faktor zur Unterminierung der DDR ein.

Friedrich Schorlemmer weiß, was jedem Menschen guttut: „Der einzelne braucht Entfaltungsfreiheit, die zugleich auf die Entfaltung des anderen gerichtet ist, wozu unabdingbar soziale Gerechtigkeit und Arbeit gehören.“

Wenn das stimmt, dann war die DDR auf dem Wege, Schritt für Schritt die Bedingungen für ein würdiges Leben zu schaffen. Der vom ND interviewte Kirchenmann stellt sachlich fest: „Daran krankt es heute.“ Und zum bedrohten Frieden finden wir bei ihm den düsteren Satz: „Die neue globale Ideologie des Marktismus kann die ganze Welt ans absehbare Ende bringen.“

Schorlemmer – eine Kassandra unserer Tage? Gibt es keine Hoffnung für die Menschheit? Wozu aber bedurfte es dann der „Wende“?