Keine „Fußnote der Geschichte“
Wer die Wahrheit nicht weiß, der ist bloß ein Dummkopf. Aber wer sie weiß und sie eine Lüge nennt, der ist ein Verbrecher“, schrieb Brecht im „Galilei“.
Bei der Erarbeitung eines heimatgeschichtlichen Buches „Bildungsstadt Ilmenau“ mußte ich oft an diese Worte denken. Kapitel 7 lautete z. B. „Die Entwicklung des Bildungssystems der DDR“, Kapitel 8 „Entwicklung des Bildungswesens seit der Wende“.
Lange habe ich über die inhaltliche Darstellung beider Kapitel nachgedacht, um die Wahrheit aufschreiben zu können. Dabei gelangte ich zu folgender Erkenntnis:
Das DDR-Bildungssystem war wissenschaftlich-pädagogisch durchdacht – von der Vorschulerziehung bis zur Berufslenkung. Es bot fast jedem Bürger die Möglichkeit, sich unabhängig vom elterlichen Geldbeutel seinen Fähigkeiten und Kenntnissen entsprechend zu entwickeln. Dabei bestimmte in allen Phasen die Einheit von Bildung und Erziehung, die einheitliche Orientierung von Elternhaus und Schule die Ausbildung.
Rita Süßmuth, Professorin für Erziehungswissenschaft und spätere Staatssekretärin, bemerkte 1990: „Man hätte im Bildungswesen von der DDR eine Menge lernen können.“ Zwei Jahre später fügte sie hinzu: „Die haben zwar im Osten ein ideologisiertes Schulsystem gehabt, aber im Prinzip ein richtiges.“
Bei der Vorstellung meines Buches vor mehr als 60 Ilmenauer Bürgern vermittelte ich die Erkenntnis, daß das derzeitige BRD-Bildungssystem äußerst reparaturbedürftig sei. Diese These untersetzte ich mit der Feststellung, unter dem föderalistischen System betreibe jedes Bundesland seine eigene Politik auf diesem Gebiet, wobei Stoffvermittlung und Erziehung strikt getrennt werden. Die PISA-Studien beweisen den Mangel an wissenschaftlicher Erkenntnis und die Nichteinhaltung pädagogischer Grundprinzipien.
Im Herbst 2011 lernte ich auf einer Schweden-Reise einen Kollegen aus der Pfalz kennen, der über 40 Jahre als Biologie- und Physik-Lehrer an einer Realschule tätig war. Er sagte mir unumwunden: „Fast niemand von uns ist mit dem Bildungssystem zufrieden – es gab viele Reformen, die aber nicht dazu führten, daß man als studierter Lehrer seine Kenntnisse und Erfahrungen voll und ganz so auf die Schüler übertragen konnte, wie man es gewollt hätte.“
Vor Jahren begab sich eine Delegation des Bundestages nach Finnland, um die dortige Volksbildung kennenzulernen. Man tat dabei so, als ob es die DDR nie gegeben hätte, obwohl doch die Finnen in den 80er Jahren wesentliche Erfahrungen in der DDR gesammelt und von ihr übernommen haben.
Der Vergleich zwischen den Bildungssystemen beider deutscher Staaten zeigt, wie notwendig es ist, bei der Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit komplexer und objektiver die 40jährige Existenz eines sozialistischen deutschen Staates zu schildern. Dabei müssen natürlich auch begangene Fehler und offensichtliche Selbstherrlichkeiten genauso sachlich dargestellt werden wie die positiven Ergebnisse. Das sollte auch im Geschichtsunterricht vermittelt werden, damit vier Jahrzehnte DDR in der Vorstellung der Schüler nicht nur zu einer „Fußnote“ degradiert werden.
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