Elfriede Brünings erster Roman gibt den Blick auf 1930 frei
Kleine Frau – was nun?
Unheil braute sich in der Regierungszeit Schleichers und Papens über Deutschland zusammen – diese Lesart ist 83 Jahre später Allgemeingut. Ein sehr selten gewordenes, lebendiges Zeugnis aus dem Jahre 1930 legt die damals 20- und heute 103jährige Elfriede Brüning ab. Sie zeigt in ihrem Roman-Erstling den bedrückenden Alltag einer Familie im damaligen Berliner Norden. Entrechtung und Demütigung bestimmen das Leben der schwer arbeitenden „Kleinen Leute“ – des Tischlers Hermann Wegener, seiner Frau Anna, des 16jährigen Sohnes und der erwachsenen Tochter, einer Büroangestellten. Als Chronistin gibt Elfriede Brüning ihre eigene Lebenserfahrung wieder. Sie, die junge Kommunistin, sieht Hoffnung im grundlegenden Umgestalten der gesellschaftlichen Verhältnisse. In Brünings authentischer Beschreibung von damals leuchten unversehens aktuelle Bezüge auf.
Ein scheinselbstständiger Kleinhandwerker steckt im prekären unteren Ende einer „Zuliefer-Pyramide“ fest, die weiter oben agierenden Vermarkter beuten seine wertschöpfende Arbeit skrupellos aus, drücken sein Entgelt bis ins Beschämende. Auch der Vermieter und andere Gläubiger bedrängen ihn ständig. Für den Möbeltischler und seine mitarbeitende Ehefrau bedeutet das nie endende Sorge um die Existenz und tägliches Schuften bis zum Umfallen: Armut trotz Arbeit. Der heranwachsende Sohn versucht dieser Lebensperspektive mit Flucht in die alternative Jugendkultur zu entkommen. Als Vater Hermann aufgeben und Transferleistung beantragen muß, rechnet die Wohlfahrtsbehörde das Gehalt der Tochter Trude an, die noch in der „Bedarfsgemeinschaft“ des Elternhaushalts lebt. Eingezwängt in diese Notlage, entschließt sich diese zum illegalen Abbruch ihrer Schwangerschaft – und muß sich in der Klinik eine bevormundende Zwangsberatung gefallen lassen.
Solche und ähnliche Erscheinungen sind Alltag auch in der Gegenwarts-BRD. In dem Buch „Kleine Leute“ bilden sie das Grundthema, um das sich die eskalierenden Konflikte in der Weimarer Republik aufbauen. Zuversicht geht von mehreren der Romangestalten aus: Da ist Hans, Trudes arbeitsloser Geliebter, der sich in der Kommunistischen Partei engagiert. Er will Arbeiter und andere „Kleine Leute“ für die revolutionäre Sache gewinnen. Auch Hermanns ehemaliger Geselle Isaak spricht dem Meister mit sozialistischen Visionen Mut zu. Der Tischler jedoch ist in seiner eingebildeten Handwerkerehre befangen und mag sich vergesellschaftete Produktionsmittel nicht vorstellen. Dennoch bringen die Genossen um Isaak und Hans in der Nacht vor Hermanns Zwangsräumung die komplette Werkstattausrüstung vor dem Zugriff der Gerichtsvollzieher und Gläubiger in Sicherheit. Denn Arbeiterehre heißt Solidarität. Sie und nicht die Borniertheit der Innungskollegen verhilft Hermann zu einem Neuanfang. Er beginnt zusammen mit seiner unermüdlichen Frau Anna von vorn, abhängig diesmal von einer anderen Vermieterin – und geknebelt von denselben Schulden.
Hoffnungsträger sind vor allem die Frauengestalten des Romans. Anna hatte als Verlobte die Fortbildung ihres Liebsten zum Meister mit Tagen und Nächten an der Nähmaschine erwirtschaftet. Jetzt hält sie die Familie zusammen. Sie spricht Machtworte zum Sohn, wenn er wieder in die nach dem Führerprinzip gegliederte Scheinwelt der Pfadfinder ausweichen will oder übt Nachsicht. Immer kurz vor dem Ruin, treibt sie mit Einfallsreichtum Geld auf oder mit Geduld ihren Hermann aus der Resignation. Und die Tochter Trude verhindert mit dem Einsatz ihres kleinen Angestelltengehalts wieder und wieder die drohende Pleite des elterlichen Gewerbes. Sie wird schwanger, muß aber auf eine Eheschließung und einen eigenen Haushalt verzichten. Aus der Abtreibungsklinik flieht sie im letzten Moment vor dem Eingriff. Die Mutter ist darüber bekümmert, daß Trude ein Dasein als Alleinerziehender bevorsteht. Doch als Trude ihr sagt „Wenn du willst, können wir ja heiraten – der Hans und ich.“ antwortet sie: „Wirst du endlich vernünftig, Trude? – Mein Gott, ich hätte das vor den Leuten nicht überlebt!“ Die rechtlich niedere Stellung der unverheirateten Frau, die kleinbürgerlich-spießige Verachtung gegenüber ledigen Müttern und außerehelich geborenen Kindern – das immerhin hat sich seit 1930 dank des streitbaren emanzipatorischen Eintretens unterschiedlicher fortschrittlicher Kräfte geändert!
Elfriede Brüning hat zeit ihres Lebens und Schaffens immer wieder auf die Lage der Frauen hingewiesen und diese ermutigt, ihre gleichen Rechte einzufordern. In ihrem Erstlingswerk aus dem Jahre 1930 läßt sie die Eheleute Wegener den Vortrag eines fortschrittlichen Mediziners besuchen. Er bringt die vitalen erotischen Bedürfnisse älterer Frauen zur Sprache. Heute unstrittiges Wissen, daß es sie gibt und daß Mann und Frau sie befriedigen dürfen, aber unerhört mutig, zu damaliger Zeit darüber zu reden oder im Roman gar darüber zu schreiben! Hermann und Anna jedoch fehlen in ihrer Dauerbelastung Zeit und Muße zum Lieben.
Schließlich muß Hermann die „Stempelkarte“ abholen. Anna bittet den beschäftigungslosen Mann, ihr in der kleinen Bücherei, die sie betreibt, zur Hand zu gehen. Doch er entgegnet: „Laß dir von den Kindern helfen. Ich mache keine Weiberarbeit.“ Anna, an Kummer gewöhnt, steckt auch diese Kränkung weg. Sie weiß, daß ihr Hermann ohne Arbeit verkümmert, und sie denkt konjunkturell im Bedarf der „Kleinen Leute“. Ihre neue, bessere Geschäftsidee ist die Reparaturtischlerei.
Als die junge Autorin Elfriede Brüning, damals bereits aus den Feuilleton-Seiten einflußreicher Zeitungen bekannt, ihre erste literarische Arbeit veröffentlichen will, nimmt die nationale Katastrophe ihren Lauf: „Mein Buch war im Februar 1933 fertig geworden. Ich brachte das Manuskript zu Monty Jacobs, dem Feuilletonleiter der ,Vossischen Zeitung‘, denn alle linken Verleger waren bereits verhaftet worden oder hatten sich rechtzeitig ins Ausland retten können“, berichtet Elfriede Brüning im Nachwort der 1988 im Mitteldeutschen Verlag Halle erschienenen Ausgabe. In „Kleine Leute“ hat sie ein Bild der 30er Jahre gezeichnet, das noch immer aktuell ist. Es lohnt sich, dieses Buch heute wieder zur Hand zu nehmen.
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