RotFuchs 194 – März 2014

Auch nach dem 8. Mai 1945
wurde Niedersachsen von Nazis regiert

Kopf einer braunen Schlange

Jobst-Heinrich Müller

Meine Damen und Herren, die CDU hat ihre geistigen und politischen Wurzeln im christlich motivierten Widerstand gegen den Terror des Nationalsozialismus. Das ist die Wahrheit!“, verkündete der spätere Kultusminister Dr. Bernd Althusmann am 9. Mai 2008 im Niedersächsischen Landtag.

2009 präsentierte dann die Landtagsfraktion der Partei Die Linke eine Dokumentation mit dem Titel „Braune Wurzeln – Altnazis in den niedersächsischen Landtagsfraktionen von CDU, FDP und DP“, in der sie 71 Fälle offenlegte. In diesem Pulk befand sich auch CDU-Finanzminister Dr. Georg Strickrodt, der Verträge über das Aussaugen von KZ-Zwangsarbeitern entwarf, und SS-Obersturmführer Otto Freiherr von Fircks, ein Spezialist für Zwangsaussiedlungen in Łódz bis 1942, später im Vorstand des „Arbeitskreises für Ostfragen“ der CDU.

Eine Untersuchung, mit der das Beratergremium „Historische Kommission für Niedersachsen“ bereits 2009 beauftragt worden war, führte 2012 zur Identifizierung von 204 ehemaligen NSDAP-Mitgliedern unter den 755 Landtagsabgeordneten. Als dann im Juni 2013 die Göttinger Historikerin Teresa Nentwig eine Biographie des ersten niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf (SPD) vorlegte, ging die Bombe hoch: Der derzeitige Ministerpräsident Weil (SPD) empörte sich, Kopf habe seinerzeit den Landtag belogen und forderte eine „lückenlose Aufklärung“. Die damit beauftragte konservative Historische Kommission sollte eine sofortige Debatte verhindern, mußte Nentwigs Erkenntnisse am Ende aber voll bestätigen: Kopf war in der Nazizeit Mitinhaber einer Berliner Immobilienfirma, aus der er seinen jüdischen Kompagnon ausbootete und an dessen Stelle den früheren Landrat Edmund Bohne als Partner auserkor. Die Firma lief von 1939 bis 1940 höchst profitabel. Dann wurde Kopf zum Generalbevollmächtigten der „Treuhand-Ost“ im besetzten Polen ernannte. In Freiherr von Fircksens Wirkungskreis verhökerte er das Eigentum ermordeter oder verfolgter Juden und Polen. Als Kompensation für seine Verdienste bei der „Entjudung“ und „Eindeutschung“ erhielt er satte Provisionen.

Am 9. Dezember 2013 berichtete die „Hannoversche Allgemeine Zeitung“ nach Vorliegen des Gutachtens der Kommission, die für die Beibehaltung nach Kopf benannter Schulen, Straßen und Plätze „in Anbetracht seiner Verdienste beim Aufbau des Landes Niedersachsen“ optiert hatte, über neueste Forschungsergebnisse des Göttinger Universitätsprofessors Frank Möbus. Demnach hatte Kopf eine ganze Seilschaft von Altnazis, besonders mit kriegswirtschaftlicher Rauberfahrung, in der Ministerialbürokratie des Bundeslandes um sich geschart. Justus Danckwarts, Ministerialrat der Staatskanzlei, wurde 1948 Landesbeauftragter beim Verfassungskonvent in Herrenchiemsee, der das westdeutsche Grundgesetz ausarbeitete. 1940 war er allerdings Chef der Militärverwaltung auf dem Balkan gewesen, wo er die „Erfassung“ von Juden mit plante. 1943 beteiligte sich Danckwarts an der Vorbereitung der Mordaktion im ukrainischen Kamenez Poldolsk, bei der 23 600 jüdische Leben ausgelöscht wurden.

Im „Wilhelmstraßen-Prozeß“, der 1948 stattfand, konnte die begünstigende Aussage von Danckwarts eine Verurteilung des Kopf-Freundes Wilhelm Stuckart, der als SS-Obergruppenführer an der Wannsee-Konferenz zur Vernichtung der europäischen Juden beteiligt gewesen war, zwar nicht verhindern, doch wurde dieser später Geschäftsführer des „Instituts zur Förderung der niedersächsischen Wirtschaft“. Im Zusammenwirken mit dem „Arisierer“ und Gauwirtschaftsführer Heinrich Hunke, dem Leiter der Abteilung für Vermögen und Finanzierungshilfen im niedersächsischen Finanzministerium, war er Kopfs verläßliche Stütze, zumal beide über eine gemeinsame „Berufserfahrung“ verfügten.

Es erweist sich einmal mehr, in welchem Maße die Entstehungsgeschichte sämtlicher Parteien im Westen – mit Ausnahme der 1956 verbotenen KPD – ab 1945 von Altnazis bestimmt worden ist. Für die SPD war Kopf eine „Lichtgestalt des demokratischen Wiederaufbaus“. Der Landesvater Niedersachsens von 1946 bis 1955 wurde als „volks- und heimatverbundener Politiker“ sowie als „vorbildlicher sozialdemokratischer Genosse“ bezeichnet. Ganz im Sinne Kurt Schumachers und seiner Mannen, die am 5. Oktober 1946 in Wenningen bei Hannover einer Zusammenarbeit mit der KPD, wie sie andere Niedersachsen im Wege der Gründung der SED verwirklichen wollten, eine Absage erteilten.

Nun suchen niedersächsische SPD-Funktionäre landauf, landab nach Möglichkeiten, sich aus dem Desaster herauszuwinden. Sie folgen den Empfehlungen der erwähnten Historischen Kommission, Kopfs Name auf dem Platz vor dem Landtagsgebäude, auf etlichen Straßenschildern und selbst an Schulgebäuden zu erhalten. Er könne einfach nicht „aus der Geschichte getilgt“ werden.

Die BRD sei über „kleinliche Rache“ erhaben, „Verdienst“ bleibe „Verdienst, und „Ehre“ bleibe „Ehre“, heißt die Parole.

Bislang gibt es im Landtagshandbuch und der Ahnengalerie noch keinerlei biographische Hinweise auf das wahre Geschehen. Eine Dokumentation zur „Widersprüchlichkeit“ Kopfs solle ihren Platz dort finden, heißt es.

In Lüneburg gibt es ebenfalls eine „Hinrich-Wilhelm-Kopf-Straße“. Sie durchzieht eine frühere SPD-Mustersiedlung, die heute von Arbeitslosen und Mitbürgern ausländischer Herkunft bewohnt wird. Fast nebenan liegen eine „Anne-Frank-Schule“ und Straßen, die nach ermordeten Männern aus dem bürgerlichen Widerstand gegen Hitler benannt worden sind. Der SPD-Oberbürgermeister Lüneburgs, bekannt für sein Motto „Unsere Stadt steht zur Fahne“, will es dabei belassen.

Vizekanzler Gabriel tönte am 100. Geburtstag Willy Brandts: „Die SPD hat immer schon gewußt, was Recht und was Unrecht ist!“

Wirklich? Der einstige Frontstadtbürgermeister und Kanzler der Berufsverbote – als „Gigant des 20. Jahrhunderts“ und „Urgestein der Sozialdemokratie“ glorifiziert – beglückwünschte Hitlers Lieblingsdichterin Agnes Miegel ebenso zum Geburtstag wie die Tochter des Nazi-Rüstungsministers Albert Speer zur Entlassung ihres Vaters aus dem Spandauer Kriegsverbrechergefängnis.

Von „Widersprüchlichkeiten“ und „Brüchen“ kann da wohl kaum die Rede sein, weit eher von unheilvoller Kontinuität!